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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wien, Paris, Madrid, London, Paris

Karl Kraus schließt in seine Polemik sonach auch die Jahresrück­blicke Nordaus ein. Anders als die Paris-Feuilletons zeigen diese Jahresrückblicke Nordau allerdings als einen politisch wachen, li­beralen und kritischen, von den Vorzügen der Republik überzeug­ten Zeitbeobachter. Man merkt diesen Rückblicken an, daß er im Hauptberuf politischer Korrespondent ist. Aus ihnen spricht ein politischen Nordau, wie er uns sonst, abgesehen von seinen zioni­stischen Aktivitäten und Äußerungen, in seinen Büchern und Feuilletons selten entgegentritt. Man merkt den Jahresrückblicken allerdings nicht an, daß Nordau zugleich ein engagierter politischer Zionist ist. Lediglich die Dreyfus-Affäre wird als Dominante fran­zösischer Innenpolitik kurz gestreift. Das Wissen über Nordaus zionistische Aktivitäten bezog Karl Kraus also offensichtlich aus der Lektüre der Welt.

In jedem Fall sind Nordaus Rückblicke eine Chronik der euro­päischen Zeitgeschichte von 1895 bis 1914 aus einer Hand. In ihnen würdigt Nordau den Sozialismus als den »Geschichtsinhalt« der kommenden Jahrzehnte, er konstatiert die Ungerechtigkeit, die Grenzen und das Ende des Kolonialismus, er attackiert wiederholt das preußische Dreiklassenwahlrecht ebenso wie die verfehlte österreichische Balkanpolitik, er sympathisiert mit den demokrati­schen Bewegungen und Entwicklungen in Spanien, Griechenland und der Türkei.

Und seit 1911 warnt er vor einem in seinen Ausmaßen und Wir­kungen schrecklichen europäischen Krieg aufgrund der verfehlten Politik und der militärischen Aufrüstung der Großmächte. Den Ausbruch des I. Weltkrieges hat Nordau zum Jahreswechsel 1913/ 14 richtig vorhergesagt:

»Europa bietet einen halluzinatorischen Anblick. Das Land verschwindet unter Übungslagern, Kasernen, waffenstarrenden Millionen zu Fuß, zu Pferd, zu Rad, zu Auto, in den Lüften (...) In jedem Lande verkünden tobende Minderheiten (...) ein Kan­nibalenideal der Vorherrschaft, der Eroberung, der Aufteilung von Weltteilen und vor allem des Krieges, des fröhlichen, heiligen Krieges. In den internationalen Beziehungen hat die Moral nie eine Rolle gespielt; jetzt ist auch die Vernunft aus ihnen ver­bannt. Der einzelne, der sich den gesunden Menschenverstand bewahrt hat, starrt entsetzt in dieses Massendelirium und ist ver-