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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Im Frühjahr 1904 wird der Briefwechsel Nordaus mit Herzl im­mer spärlicher. Am 3. Juli ist Herzl tot, mit nur vierundvierzig Jah­ren seinem Herzleiden erlegen. Die zionistische Bewegung ist uner­wartet ohne ihren Gründer und ohne Führung, denn Herzl hatte sein Leiden vor allen verborgen. Die Mehrzahl der Mitglieder des zionistischen inneren Aktionskomitees, allen voran Wolffsohn, Kremenetzki und Kann, drängt daraufhin Nordau, die Führung der Bewegung zu übernehmen. Er ist nach Herzl die mit Abstand be­kannteste und renommierteste Repräsentationsfigur des Zionis­mus, innerhalb wie vor allem außerhalb der Bewegung. Aber Nordau zögert, lehnt ab, obwohl der Weg zur Führerschaft für ihn scheinbar frei ist.

In der zionistischen Bewegung hob, nachdem der erste, überwäl­tigende Schock wegen Herzls unerwartetem Tod überwunden war, eine Diskussion über den Nachfolger an. Aber man kam zu keiner Entscheidung. Die Bewegung trieb unentschieden und ohne Füh­rung monatelang dahin. Im Jahr 1904 gibt es keinen Kongreß, erst im Jahr 1905 wieder. Nordau hält auf diesem Kongreß am 27. Juli 1905 die Trauerrede auf Herzl; David Wolffsohn aus Köln, der einer der engsten Vertrauten Herzls gewesen war und nach dessen Tod seine Erbschaft und das Familienvermögen verwaltete, wird zum neuen Präsidenten der zionistischen Bewegung gewählt. Nordau hatte die Kandidatur des wenige Jahre jüngeren Wolffsohn unter­stützt und half ihm in den folgenden, für die Bewegung sehr schwe­ren Jahren immer wieder als Ratgeber und Redner.

Über die Gründe für Nordaus Weigerung, sich 1904/05 ernsthaft um die Nachfolge Herzls zu bewerben, gibt er in einem Brief an den älteren Arztkollegen Max Mandelstamm (1839-1912) Auskunft. Mandelstamm, einem der ganz engen Freunde Herzls und Befür­worter von Nordaus Kandidatur, kann er sich anvertrauen: Aus­schlaggebend für den Verzicht auf eine Kandidatur sind seine Krankheit, seine Sorge um finanzielle und intellektuelle Unabhän­gigkeit, wenn er in den Dienst der Bewegung tritt, sowie die man­gelnde Unterstützung in der zionistischen Presse, wo man ihn an­scheinend eher fürchtet denn liebt. 38

38 Diese Lage der Dinge wird in Anna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen, S. 234 f., etwas verzerrt dargestellt, denn nur die Sorge um Unabhängigkeit wird genannt.