Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
341
Einzelbild herunterladen

Der Sinn der Geschichte

341

zu entnehmen. Ganz überraschend unverblümt und ungeschönt sagt Nordau das allerdings in dem anderen dicken Buch, das 1909 erschien, der Monographie Der Sinn der Geschichte, die nun aber auch gar nichts mit dem Zionismus zu tun hat, sondern sich auf 475 Seiten mit Geschichtsphilosophie befaßt: »Der Mensch ist nicht dauernd auf der Suche nach der blauen Blume, sondern ewig auf der Flucht vor dem Schmerz. Er wandert nicht zu einem geträum­ten und heiß erhofften Jerusalem des Glücks und der Freuden, sondern drängt von Stätten der Unlust weg. « 44

Der Zionismus steht hier nicht für ein utopisches Programm, nicht wie bei den Kulturzionisten für die Erneuerung des Juden­tums. Vielmehr ist der Zionismus ex negativo definiert als die Flucht vor Schmerz und Unlust, wie sie der Antisemitismus und seine Begleiterscheinungen auslösen. Der oben zitierte Satz steht in Der Sinn der Geschichte überhaupt nicht in irgendeinem zionisti­schen Kontext, er soll dort lediglich das Menschenbild Nordaus illustrieren. Aber das Beispiel >Jerusalem< ist hier gleichsam eine Freudsche Fehlleistung Nordaus, die ihm beim Schreiben unter­läuft und seine persönliche Haltung wiedergibt, nur unter dem Druck der Antisemiten, nicht wegen etwaiger utopischer Ideale nach Palästina auszuwandern. Der Antisemitismus, nicht irgend­welche positiven jüdischen Ideale, machte Nordau zum Zionisten. Das hat er oft genug wiederholt. Aber inzwischen war die Dreyfus- Affäre mit der Rehabilitierung des zu Unrecht Verurteilten zu Ende gegangen, die Dreyfusards hatten gewonnen, und Paris war Nordau offensichtlich noch nicht eine »Stätte der Unlust« geworden. Nordau war schließlich so sehr für seine Fixierung an die Wahlhei­mat Paris bekannt, daß in der zionistischen Bewegung das Bonmot kursierte, wenn der Judenstaat in Palästina denn gegründet sei, werde Nordau als Amt sofort die Stelle des Botschafters in Paris übernehmen, um bloß nicht auswandern zu müssen.

Der Sinn der Geschichte ist Nordaus Werk über Geschichte aus der Perspektive seiner »naturwissenschaftlichen Weltanschau­ung« . Es ist noch einmal eine ganz große, umfangreiche theoretische Anstrengung des Sechzigjährigen, vergleichbar nur den Conventio­nellen Lügen, Paradoxe oder Entartung. Erstaunlich ist einmal

44 Max Nordau, Der Sinn der Geschichte, Berlin: Duncker 1909, S. 451.