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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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mehr die immense Belesenheit Nordaus, der alle, aber auch wirk­lich alle Geschichtsphilosophen von Augustin bis in seine Gegen­wart und darüber hinaus seine naturwissenschaftlichen Leib- und Magenautoren Revue passieren läßt.

Das Buch hebt an mit einer Kritik der Historiographie. Die tradi- ~ tionelle Geschichtsschreibung sei nicht nur bis ins 18. Jahrhundert, sondern auch bis in die Gegenwart hinein eine »Biographie der Macht«, nämlich der Machthaber und ihrer Taten. 45 Eine Ge­schichtsschreibung, die sich an den Taten großer Männer und an konkreten Ereignissen orientiere, dringe niemals zu dem für die Menschheit Wichtigen hinter der Oberfläche der Einzelereignisse vor.

Anders die herkömmliche Geschichtsphilosophie, die einen hö­heren Gesichtspunkt einnimmt. Sie fragt nach dem Gang der Menschheitsentwicklung im Ganzen und dem Grundsätzlichen hinter den Einzelereignissen. Aber kritikwürdig an den Geschichts­philosophen findet Nordau, daß sie, so etwa Kant, der Mensch­heitsentwicklung in der Geschichte einen besonderen Platz einräu­men. Diese Sichtweise sei anthropozentrisch. Zudem werde der Menschheitsgeschichte dann meist noch irgendein Ziel unter­geschoben, sie werde als Entwicklung auf einen bestimmten End­zustand oder Zweck hin geschildert. Die Geschichte habe aber keinen Zweck, denn es gebe niemanden, der der Natur und Ge­schichte Zwecke setzen könne. Geheime Annahme aller Ge­schichtsphilosophie sei in Wirklichkeit ein Gott, der allmächtig und vernünftig der Welt und damit der Weltgeschichte Zwecke setze. Das ist für Nordau nichts als verkappte Theologie und längst überholte Metaphysik.

Von der Position eines »Naturbeobachters« aus, die Nordau statt der der Theologie und herkömmlichen Geschichtsphilosophie be­zieht, rechtfertige nichts die Annahme einer in der Geschichte wir­kenden zwecksetzenden Vernunft. Vielmehr ist für Nordau die Ge­schichte Teil der Natur und ihren Gesetzen unterworfen. Keine Teleologie oder transzendentale Finalität durchherrsche das Na­turgeschehen und damit auch die Geschichte, sondern einzig Kau­salität. Zu der auf jeden Menschen einwirkenden Kausalität gehö-

45 Nordau, Der Sinn der Geschichte, S. 445.