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mehr die immense Belesenheit Nordaus, der alle, aber auch wirklich alle Geschichtsphilosophen von Augustin bis in seine Gegenwart und darüber hinaus seine naturwissenschaftlichen Leib- und Magenautoren Revue passieren läßt.
Das Buch hebt an mit einer Kritik der Historiographie. Die tradi- ~ tionelle Geschichtsschreibung sei nicht nur bis ins 18. Jahrhundert, sondern auch bis in die Gegenwart hinein eine »Biographie der Macht«, nämlich der Machthaber und ihrer Taten. 45 Eine Geschichtsschreibung, die sich an den Taten großer Männer und an konkreten Ereignissen orientiere, dringe niemals zu dem für die Menschheit Wichtigen hinter der Oberfläche der Einzelereignisse vor.
Anders die herkömmliche Geschichtsphilosophie, die einen höheren Gesichtspunkt einnimmt. Sie fragt nach dem Gang der Menschheitsentwicklung im Ganzen und dem Grundsätzlichen hinter den Einzelereignissen. Aber kritikwürdig an den Geschichtsphilosophen findet Nordau, daß sie, so etwa Kant, der Menschheitsentwicklung in der Geschichte einen besonderen Platz einräumen. Diese Sichtweise sei anthropozentrisch. Zudem werde der Menschheitsgeschichte dann meist noch irgendein Ziel untergeschoben, sie werde als Entwicklung auf einen bestimmten Endzustand oder Zweck hin geschildert. Die Geschichte habe aber keinen Zweck, denn es gebe niemanden, der der Natur und Geschichte Zwecke setzen könne. Geheime Annahme aller Geschichtsphilosophie sei in Wirklichkeit ein Gott, der allmächtig und vernünftig der Welt und damit der Weltgeschichte Zwecke setze. Das ist für Nordau nichts als verkappte Theologie und längst überholte Metaphysik.
Von der Position eines »Naturbeobachters« aus, die Nordau statt der der Theologie und herkömmlichen Geschichtsphilosophie bezieht, rechtfertige nichts die Annahme einer in der Geschichte wirkenden zwecksetzenden Vernunft. Vielmehr ist für Nordau die Geschichte Teil der Natur und ihren Gesetzen unterworfen. Keine Teleologie oder transzendentale Finalität durchherrsche das Naturgeschehen und damit auch die Geschichte, sondern einzig Kausalität. Zu der auf jeden Menschen einwirkenden Kausalität gehö-
45 Nordau, Der Sinn der Geschichte, S. 445.