Der Sinn der Geschichte
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ren neben den natürlichen Bedingungen immerauch die Institutionen, Denkweisen und Werte anderer Menschen, kurz: Auch Kultur ist Teil der alles beherrschenden Naturkausalität, der sich der Mensch in seinem alltäglichen »Kampf ums Dasein« zu stellen hat.
Das stärkste Motiv menschlichen Handelns in der Geschichte ist dabei die Vermeidung von Unlustgefühlen. Die Unlustgefühle motivieren die Menschen stärker als die Lust, die Peitsche weit mehr als das Zuckerbrot. Die Vermeidung von Unlustgefühlen wie Hunger oder Schmerz ist der menschlichen Selbsterhaltung dienlich. Und das Streben nach »Selbsterhaltung inmitten der feindlichen Natur« ist nach Nordau die »Grundtatsache«, die aus dem ganzen Ablauf der Geschichte hervorgeht und an ihr abzulesen ist.
Allerdings unterscheidet sich der Mensch in puncto Selbsterhaltung nicht spezifisch von allen anderen pflanzlichen und tierischen Organismen. Er ist nur insofern ein Sonderfall der Evolution, als er zwecks Überlebens seinen Geist zu Hilfe nehmen und »künstliche Anpassung durch Entdeckungen« vollziehen konnte, die ihm ein Überleben gestatteten, wo die natürliche Anpassung zum Überleben nicht gereicht hätte. Wieder korrigiert Lamarck Darwins Selektionslehre: Die immer fortschreitende künstliche Anpassung durch Entdeckungen ist für Nordau der eigentliche Inhalt der Menschheitsgeschichte. Speerspitze dieser Entwicklung der Menschheit sind die kleinen Eliten der Wissenschaftler und Denker, während die breite Mehrheit in »Parasitismus« und religiösem »Illusionismus« verhaftet bleibt. Die Geschichte gibt auf die Frage nach einem Zweck der Menschheit und ihres Daseins keine Antwort. Die Menschen können dem höchsten Ideal der Güte und selbstlosen Liebe nachstreben, aber das ist nicht der Zweck oder Sinn der Geschichte. Als wirklicher Sinn der Geschichte gilt Nordau nur die Selbst- und Arterhaltung durch Anpassung an die Natur. »Wer in der Geschichte etwas anderes zu finden behauptet, der liest nicht in ihr, sondern trägt in sie hinein .« 46
46 Nordau, Der Sinn der Geschichte, S. 468.