Cesare Lombroso
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keitsveranstaltung eingeladen hatte. 50 Nordau ist tagelang in Lom- brosos Haus in der Via Legnano zu Gast. Später gewinnt er Lombroso für den Zionismus und schreibt zustimmende Artikel über dessen in der Öffentlichkeit und Fachwelt sehr umstrittene Kriminalanthropologie mit ihrer These vom »geborenen Verbrecher«. Die in dieser Kriminalanthropologie behauptete Erblichkeit der Anlage zum Verbrecher, die durch Untersuchungen von Physiognomie und anderen körperlichen Merkmalen gestützt werden soll, leuchtet Nordau, der ja ebenfalls die Erblichkeit der Entartung behauptet, ein und wird von ihm gegen die öffentliche Kritik verteidigt. 51 Lombroso ist für ihn, zu Recht, der Begründer der modernen Kriminalanthropologie. Und die hat tatsächlich das Verdienst, erstmals mit wissenschaftlichem Anspruch dem harten Strafanspruch der Justiz die psychische Schädigung oder die psychische Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit von Straftätern strafmildernd entgegenzustellen - was die revolutionärste Entwicklung in der Justiz des 19. Jahrhunderts darstellt. 52 Aber auch die Vorwegnahme einiger Thesen Darwins und die Entdeckung des Erregers der Pellagra werden Lombroso - wie inzwischen bekannt ist: fälschlich - von Nordau zugeschrieben. 53 Von Lombroso, einem Universitätsprofessor von europäischem Ruf und jüdischen Intellektuellen, erfährt Nordau Anerkennung und Freundschaft. Es ist die Gemeinsamkeit und Solidarität zweier Außenseiter; gerade die mannigfache Kritik von außen schweißt sie bis zu Lombrosos Tod nur noch enger zusammen.
»Ich will auch nach meinem sechzigsten Geburtstage, solange Kraft und Leben reichen, für das geschichtliche Ideal des jüdischen Volkes wirken bis dahin. « Mit diesen Worten hatte das Vorwort Nordaus zu seinen Zionistischen Schriften 1909 geendet. Aber schon der IX. Kongreß der Zionisten im Dezember 1909 in
50 Neue Freie Presse, 21.9.1901; zur genauen Datierung auch Briefe Nordau - Herzl, 10.11. u. 24.11.1896, ZZA H VIII615.
51 Neue Freie Presse, 21.9.1901; 28.4.1906.
52 Cesare Lombroso, Der Verbrecher (L’uomo deliquente, 1876), übers, v. M. O. Fraenkel, 3 Bde. Hamburg 1894ff., Bd. I, Vorwort. Vgl. Christoph Schulte, »Böses und Psyche. Immoralität in psychologischen Diskursen«, in: C. Colpe/ W. Schmidt-Biggemann, Das Böse, Frankfurt/M. 1993, S.300-322.
53 Neue Freie Presse. 21.9.1901. S. 1-4.