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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Weltkrieg 34g

am 11. September die auf seine Person ausgestellte Ausreisegeneh­migung. 61 Die Familie zurücklassend, will er mit dem Zug nach Ma­drid fahren, wird aber in Bordeaux bei einer Kontrolle am Bahn­hofsausgang verhaftet. Obwohl seine Papiere in Ordnung sind, hält die Polizei ihn mehrere Tage als verdächtigen Ausländer fest und läßt ihn erst am 16. September Weiterreisen. Am 17. September kommt er in Madrid an, erleichtert.

Wenn wir den brieflichen Schilderungen trauen dürfen, die in Erinnerungen wiedergegeben werden 62 , war diese Verhaftung für Nordau persönlich das schlimmste Erlebnis des Ersten Weltkriegs. Er erfährt das definitive Ende der bürgerlichen Liberalität des 19. Jahrhunderts am eigenen Leib. Denn er ist fünfundsechzig Jahre alt, als er das erste Mal in seinem Leben eine Gefängniszelle von innen sieht. Er ist ein unbescholtener Bürger mit gültigen Papieren, eine bekannte Person des öffentlichen Lebens mit internationaler Repu­tation, die sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen, die sich über die Niederungen des profanum vulgus erhaben fühlen konnte. Und nun wird er mit Unbekannten in irgendeine Zelle gesperrt, hilflos, rechtlos, fast mittellos, ein alter, weißbärtiger Mann, der nach Anzug und Auftreten bessere Zeiten gesehen hat. Es ist das Ende seiner bürgerlichen Existenz in Frankreich, die er sich nach sechs­unddreißig Jahren des Aufenthalts in Paris aufgebaut hatte. Aber Nordau protestiert, kämpft, wehrt sich, kommt am Ende frei.

ln Madrid geht es ihm wieder gut. Er ist kein Immigrant wie jeder andere, er hat Beziehungen und gute Freunde, allen voran die Fa­milie Salmerön. Nicolas Salmerön, der Sohn des gleichnamigen er­sten Präsidenten der Spanischen Republik, hatte etliche Werke Nordaus ins Spanische übersetzt und kannte Nordau seit 1893 per­sönlich. Ähnlich antiklerikal eingestellt wie Nordau, vermittelt er Kontakte zu Angel Pulido, dem Wiederentdecker der sephardi- schen Traditionen auf dem Balkan. Vor allem aufgrund dieser poli­tischen Beziehungen ist es schnell möglich, die in der Bretagne wartende Familie Nordaus einschließlich Charlotte Südfeld mit Reisepässen zu versehen und nach Madrid nachkommen zu lassen.

61 Die Datumsangaben aus: Anna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen, S. 257ff., die nicht erhaltene Briefe Nordaus an sie selbst zitiert.

62 'tnna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen, S. 260-266.