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Philosophen, die Sittlichkeit für einen Teil der menschlichen Natur halten. Für Nordau ist der Mensch selbst Natur, eine Bestie und ein »Raubthier«, ein ungezügeltes Triebwesen. Die Sittlichkeit hemmt diese natürliche, ungezügelte Wildheit nur je nach Stand der Kultur. Rousseau habe mit seiner Annahme, der Mensch sei von Natur aus gut, vollkommen unrecht. Nicht minder unrecht habe allerdings Kant mit seiner Lehre vom Sittengesetz im Menschen: Sittlichkeit ist für Nordau Konvention, Übereinkunft zwischen Menschen, nicht Natur des Menschen; sie ist künstlich, nicht natürlich.
Ähnliche Kritik äußert Nordau an den sittlichen Geboten von Judentum und Christentum. Daß diese Gebote gottgegeben seien, beruhe allein auf menschlicher Einbildung. Durch die positiven Wissenschaften, und hier beruft sich Nordau ausdrücklich auf das Dreistadienschema Auguste Comtes , 65 ist die Theologie und die an sie anschließende Metaphysik überholt, die sich auf sie stützenden Sittenlehren sind wissenschaftlich als unfundiert erwiesen. In Wirklichkeit, so Nordau , sei das Wesen der Sittlichkeit »Zügelung, Hemmung, Überwältigung des Triebes durch die Vernunft« , 66 Sittlichkeit ist der Sieg der vernünftigen Einsicht über die menschliche »Triebnatur«.
Hieraus sei aber nicht zu schließen, fährt Nordau fort, daß das Handeln gegen den Trieb, die Triebhemmung aus Vemunftgrün- den, lustfeindlich sei. Vielmehr diene auch die Hemmung der unmittelbaren Triebbefriedigung dem Eigeninteresse des Menschen, dessen Verfolg dem Menschen wiederum Lust verschaffe: Lustgefühle durch die Verwirklichung anderer Interessen wie Gelderwerb, Ehrgeiz, Freundschaft oder die Durchsetzung eigener und gesellschaftlicher Wertvorstellungen. Letztere sind, entgegen den natürlichen Lustgefühlen bei Triebbefriedigung, das Ziel des sittlichen Handelns. Lustgefühle und damit ein Streben nach Glück sind das Ziel der Sittlichkeit, damit schwenkt Nordau am Ende auf eine Variante eudämonistischer Ethik ein.
Vernunft und Sittlichkeit sind nötig, um den im Kampf ums Dasein kämpfenden Individuen überhaupt ein Zusammenleben zu er-
65 Max Nordau , Die Biologie der Ethik, Leipzig : B. Elischer Nachfolger [1920], S.8f.