Heft 
(1896) 5
Seite
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Karl Miillenhoff.

5. Volkstümliche Natüranschauungen.

Von Karl Müllenhoff.

Die Vorstellungen des Volkes von den Naturerscheinungen werden vielfach von den Gebildeten, besonders von den Naturforschern, nicht nach Gebühr gewürdigt. Die in den Märchen und Sagen, in Spriich- wörtern und Gebräuchen enthaltenen Anschauungen über die Naturvor­gänge sind allerdings recht oft irrtümlich, doch finden sich auch gar manche feine und richtige Beobachtungen, poetische Darstellungen, und in vielen Fällen ist, was die neuesten Entdeckungen der Fachgelehrten ans Licht gebracht haben, dem Volke längst bekannt, ja es wird sogar seit langer Zeit bereits praktisch angewandt.

Um den reichen Stoff, den die volkstümlichen Naturanschauungen darbieten, für die kritische Betrachtung zu ordnen, erscheint es zweck­mässig, zunächst von den irrtümlichen Beobachtungen und willkürlichen Deutungen auszugehen; darauf mögen die in den volkstümlichen Lebens­regeln und Moralvorschriften enthaltenen Anschauungen über die Natur einer Prüfung unterzogen werden; zum Schluss soll dann eine Reihe von Beispielen zeigen, wie feine und richtige Beobachtungen und wie über­raschend zutreffende Erklärungen oft vom Volke gefunden sind.

Irrtümliche Volksmeinungen über die Naturerscheinungen sind recht häufig. Beispiele für willkürliche Benennungen sind die Blindschleiche, der Tausendfuss, das Neunauge, der türkische Weizen, die spanische Fliege, der spanische Flieder, der Ziegenmelker, die Totenuhr, das Leichen­hühnchen (das Käuzchen).

Jeder einzelne der angeführten Namen zeigt, dass die Beobachtung des Volkes unvollkommen war. Die Blindschleiche kann sehen, der Tausendfuss hat nur 32 Beine, das Neunauge zwei Augen, der türkische Weizen stammt aus Mexiko, die spanische Fliege ist ein Käfer und kommt in Spanien gar nicht vor u. s. w.

Und nicht weniger häufig wie derartige irrtümliche Angaben und ungenaue Beobachtungen finden sich willkürliche Deutungen. Das Volk machte in gar manchen Fällen allerdings eine richtige Beobachtung, konnte sich aller das Gesehene nicht erklären und nahm nun zu aller­hand willkürlichen Annahmen seine Zuflucht. Riesen und Zwerge, Hexen, der Teufel, Kobolde und andere Fabelwesen mussten die eigentliche Er­klärung ersetzen; der Kukuk, Donner und Blitz wurden herangezogen um eine Scheinerklärung zu erhalten. So werden, um von den zahl­reichen Beispielen nur einige zu nennen, die durch ihre Grösse auffallenden erratischen Blöcke in ganz Norddeutschland Riesensteine genannt, die durch stark strömendes Wasser gebildeten Strudellöcher heissen Riesen-