Heft 
(1896) 5
Seite
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Karl Müllenhoff.

unvorsichtig gilt es, die Winterkleider allzu früh abzulegen, denn: Der Bauer von der rechten Art trägt seinen Pelz bis Himmelfahrt; und wer sich wohl bewahrt will hau, behält ihn bis Johannis an; und timt ihm da der Bauch noch weh, so trägt er ihn bis Bartolomä (24. August). Auch soll man die Schafe nicht zu früh scheeren; denn: Wer seine Schafe scheert vor Servaz (14. Mai), dem ist die Wolle lieber als das Schaf.

Auch in neuerer Zeit kommen derartige praktische in Form wunder­licher Drohungen gegebene Vorschriften auf. So in der überall ver­breiteten Mahnung, die Mädchen sollen erst Zucker und dann erst Milch zum Kaffee nehmen, sonst bleiben sie ledig; der wahre Grund der Vor­schrift ist, dass sich der Zucker nicht gut auf löst, wenn man den Kaffee vorher Milch zugesetzt hat.

Auffallend selten finden sich Warnungen vor dem übermässigen Trinken. Nur die eine verbreitete Vorschrift ist hierher zu rechnen, man solle immer erst austrinken, ehe man wieder einschenkt, denn wer sich zum halbvollen Glase zuschenken lässt, bekommt die Gicht. Die Sache ist nicht so wunderlich, wie es erst scheint; denn durch das Zuschenken verliert man jede Kontrolle, wie viel man trinkt, und es ist also gemeint, wer nicht darauf achtet, wie viel er trinkt, bekommt die Gicht.

Zur Ehrlichkeit mahnt die Geschichte von dem Edelmann, der seinen Schlächter betrog; er wog bei der Zahlung dem Schlächter die Knochen wieder zu und zog sie vom Preise ab. Zur Strafe dafür wurde er nach seinem Tode in einen Maulwurf verwünscht, also in ein Tier, das sich von Fleisch ohne Knochen nährt.

In allen diesen Erzählungen, die zur Reinlichkeit und Ordnung, zum Fleisse und zur Ehrlichkeit ermahnen, ist die Beobachtung Neben­sache, die Lebensregel oder Moralvorschrift die Hauptsache und die Gesamtheit dieser Geschichten giebt in kurzen Fabeln und Sprüchen eine Art Sittenlehre.

Vielfach gelangte das Volk zu überraschend genauen Beobachtungen; es pflegt dann aber nicht, wie es bei wissenschaftlicher Darstellung üblich ist, die Beobachtung als solche zu geben, sondern es kleidet sie in phantasievoller poetischer Weise ein. Eine heraufziehende Gewitter­wolke istder Mann mit dem grauen Mantel. Vom Schnee heisst es:

Da kam ein Mann aus Aken Mit einem kreideweissen Laken;

Er wollte die ganze Welt bedecken,

Doch könnt er nicht über die Elbe recken.

Der Seemann sagt, wenn das Meer bewegt ist: Rasmus kiekt över de Reeling (die Schanzkleidung); er personifiziert sich die See und nennt