Heft 
(1892) 1
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Bericht über die 12. (3. Arbeit« ) Sitzung des I. Vereinsjahres.

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sowohl an Universitäten wie an Kunstakademien, Museen, Turnanstalten und an allen höheren Lehranstalten, wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereinen überhaupt zu verwenden sein. Auch in klinischen Kor­und Operationssälen könnte sie mannigfache Verwendung finden.

Hierzu bemerkte Stadtrat E. Friedei zusätzlich Folgendes.

Das Bedürfnis, einen Normal-Menschen zu konstruieren und damit einen Kanon für die menschliche Figur, insbesondere für die Gliedmassen derselben und ihr Verhältnis zu einander aufzustellen , ist ein uraltes und zu allernächst für wirtschaftliche, praktische Zwecke überall empfundenes. Jeder Strumpfwirker, Handschuhmacher, Wäschefabrikant, Schuhmacher und Schneider kennt gewisse feste, hergebrachte Über­lieferungen, welche sich auf die von ihm zu bekleidenden Teile des Körpers und deren Verhältnisse beziehen. Wenn wir uns maassnehmen lassen, machen wir Bekanntschaft mit der angewandten Proportionslehre, wie sie der Handwerker und Fabrikant anwendet.

Auch weiter über die Schönheitsbedingungen des Menschen sind be­stimmte Ideale und Vorstellungen im Volke von Alters her im Schwange, so z. B. über die Länge der Hände und Füsse, des Ober- und Unterarms, selbst über die Einteilung des Gesichtes, wobei ich an die landläufige Vorstellung erinnere, dass von der gesamten Gesichtslänge V'j auf die Stirn bis zur Nasenwurzel, Vs auf die Nase, */ 3 auf den Rest des Ge­sichts entfallen müsse u. dgl. m.

Es hat an künstlerischen und gelehrten Versuchen, die menschliche Gestalt in einen bestimmten Schönheits-Kanon zu bringen, also einen Normal-Menschen für Künstler, Kunsthandwerker, Ärzte und Studirende zu konstuieren, schon bei den Alten nicht gefehlt. Polyklet aus Sicyon, einer der glücklichsten Nebenbuhler des grossen Phidias, hat ein Buch über die Verhältnisse des menschlichen Körpers geschrieben, worin er gewissermassen die mittlere Proportionale zieht und zur Nachahmung empfiehlt. Ebenmass des Gliederbaues und eine zierliche Mittelstatur ist Polyklets Schönheits-Ideal. In der berühmten Statue des Doryphoros hat er seinen Normalmenschen plastisch verwirklicht. Iolyclets Nach­folger haben sich zwar die anatomischen Gesetze des Meisters ungeeignet, es ist ihren Bildwerken aber Mangel an Seele und Anmut vorgeworfen worden, und damit kommen wir auf die schwache Seite des sogenannten Normal-Menschen. Es genügt eben. nicht blos ein guter Anatom und Proportionskenner zu sein, es muss beim bildenden Künstler der göttliche Funke des Genies hinzukommen, um das ausgeklügelte anatomische Ver­hältnis zu einer warm und wahr empfundenen künstlerischen Schöpfung auszugestalten, sonst wird nur ein schematisch richtiges Machwerk, aber kein eigentliches Kunstwerk erzeugt werden können.

Es ist das besondere Verdienst eines der gefeiertsten Berliner Bild-