Heft 
(1896) 4
Seite
208
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Frngekasten.

Fragekasten.

Herrn C. Sch. Über den Rohrsänger. Hinsichtlich des Rohrsängers, über welchen ich befragt werde, möchte ich Folgendes bemerken:

Der Vogel, der ein charakteristischer Bewohner und Beleber unserer grösseren märkischen Gewässer und an diesen allgemein verbreitet ist, führt den ihm volkstümlich beigelegten Namen Rohrsperling eigentlich mit Unrecht, da er als Feinschnäbler und Insektenfresser vielmehr zu den Sylvien gehört. Unsere alten Vogelsteller, eine jetzt ausgestorbene oder unter der Strenge des Gesetzes verkommene Menschenrasse, wussten dies sehr gut. Bei ihnen hiess der Vogel Rohrdrossel, auch wohl Rohrsprosser. Wir wollen für ihn, ungewiss, ob wir darin mit den Gewissensskrupeln modernster Ornithologie übereinstimmen oder nicht, die althergebrachte systematische Benennung Sylvia turdoides beibehalten, zugleich aber hinzufügen, dass er für Linne, wohl seiner relativen Grösse halber, eine Drossel (Turdus arundinaceus) gewesen ist. Wer kennt und liebt nicht das geschwätzige, trotz seiner Dis­harmonie so reizvolle Lied dieses Sängers, der den Fröschen etwas von ihrem Getön abgelauscht zu haben scheint? Für Ruderschlag und Netzwerfen bildet cs, überall wo hohes Rohr steht, eine ständige Begleitung, die der ländliche See- oder Flussanwohner mit den Worten: Kaddel, Kaddel kiek- kiek-kiek wiederzugeben liebt.

Unter den Vielen indess, welche ihn zu hören gewohnt sind, kennen nur wenige den Vogel selbst, der sich scheu im Geröhricht verbirgt und dessen schützenden Halmenwald nur ausnahmsweis verlässt. Sein kunstvoll gebautes, zwischen Rohrstengeln hängendes Nest steht im tiefen Dickicht der Wasser­wildnis und wird meist erst gefunden wenn der Winter das Rohr zu schneiden gestattet.

Der Anfrage des Herrn L. Schack entsprechend, möchte ich die Äusserung wagen, dass ein Zusammenfallen der Eierzahl (45) mit der das Nest tra­genden Rohrhalme nur auf einem Zufall zu beruhen scheint und regelmässig bisher von niemand beobachtet worden sein dürfte.

Die Lebensweise des grossen Rohrsängers, der gerade jetzt sich an­schickt, uns zu verlassen, bietet manches von Interesse dar, über das ich hier schweigen will. Nur einen mich persönlich angehenden Fall möchte ich noch anführen.

Es war am Tegeler See, an meinem eigenen Scharfenberger Ufer, w r o ich vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren meinem unvergesslichen Freunde Alfred Brehm das erste, ihm zu Gesicht gekommene, Rohrsprossernest zeigen konnte. Und er hatte doch soviel gesehen!

Als Rohrsperling gilt bei uns ferner noch der Rohrammer (Emberiza schoeniclus), ein himmehveit verschiedener Vogel, der, beiläufig gesagt, nicht im Rohr, sondern am Boden nistet und mit dem uns beschäftigenden nichts als die Liebe zum Wasserdunst gemein hat.

Berlin, 4. September 1895. Carl Bolle.

Für die Redaktion: Dr. Eduard Zache, Demminerstrasse 64. Die Einsender haben den sachlichen Inhalt ihrer Mitteüungen zu vertreten.

Druck von P. Stankiewicz Buchdruckerei, Berlin, Bemburgerstrasse 14.