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Kleine Mitteilungen.
Altslavische Kulturzustände. In meinem Vortrage über den Spreewald (Brandenburgs 1894, 247) habe ich hinsichtlich der so vielfach zutage tretenden Überschätzung der altslavischen Kultur der Wenden (sorbischen, serbischen Slaven) Norddeutschlands im früheren Mittelalter ausgesprochen: „Im grossen Ganzen werden jene Zustände ebenso gewesen sein wie bei den übrigen Slaven. Wenn man also abgelegene rein slavische Bevölkerungen erforscht, etwa im Innern Russlands, die wenig beeinflusst worden sind von westeuropäischen Dingen und zieht ab, was in ihrer Entwicklung, ihren Sitten und Anschauung ausgesprochen der Neuzeit angehört, so wird man so ungefähr ein Bild von den Menschen und Lebenszuständen der slavischen Zeit Norddeutschlands erhalten.“ Ich gebe hier eine Mitteilung der „Odessaer Zeitung“, die ich der Deutschen Tageszeitung (18. 3. 1903) entnehme. Dieselbe schildert anschaulich derartige Zustände. Die 0. Z. schreibt: „Noch vor wenigen Jahrzehnten war Wolhynien zu einem grossen Teile eine Wüstenei: Moräste, Gesträuch, verwüstete W T älder wechselten miteinander ab. Die Gegend war wenig bevölkert; man traf nur hier und da die verwahrlosten Wohnstätten der Edelleute und die elenden Hütten der Leibeigenen an. Und um nichts besser waren die Dörfer der russischen Bauern, Ihr ganzes Wissen von der Landwirtschaft bestand darin, dass sie das Land mit einem hölzernen Pflug ein wenig umkratzten und dann den Samen hineinstreuten und mit einem geeigneten Ast zueggten. Das Getreide wurde mit zwei Handsteinen gemahlen, und das so gewonnene Erzeugnis machte die Hauptnahrung der Bevölkerung aus, Rindvieh und Schweine hatten nur den Namen mit diesen Tieren gemein, sonst aber nichts. Diese Tiere waren sich selbst überlassen und gingen den ganzen Sommer frei im Walde umher. Im Spätherbst wurde dann eingefangen, was die Wölfe nicht zerrissen hatten, und jeder suchte das Seine aus, das er an besonderen Kennzeichen erkannte. Den Winter über fand das Vieh keine Unterkunft in Ställen, sondern musste * Tag und Nacht im Freien bleiben, wo es sich an den Heuschobern nach Belieben gütlich tun konnte, eine Fütterung fand nicht statt. Die Wohnung bestand aus einem einzigen Raum von 6—8 Arschin*) im Geviert. Das war zugleich Wohnstube, Küche, Futterstelle für Schweine, Gänse und Hühner und Schlafraum für die ganze Familie. Das Getreide wurde in Schobern aufgestapelt und im Winter nach Bedarf gedroschen. Das war die Wirtschaftsweise der russischen Bauern, ehe sie mit den Deutschen in Berührung kamen, und da, wo keine Deutschen sind, ist sie heute noch so. Dem Edelmann, der meist im Staatsdienst stand, war sein Gut eine Last. Es musste es einem Verwalter überlassen, der ebenso wenig von der Landwirtschaft verstand wie die Bauern auch. Der Edelmann hatte nur den Gewinn von seinem Gut, dass er den Wald schlagen liess oder es versetzte. Diesen Edelleuten nun erschienen die aus Polen (nicht Preussen) einwandernden Deutschen als willkommene Abnehmer ihres Landes, sei es durch Kauf oder durch Pacht. Es war beiden geholfen: der Edelmann war sein lästiges Gut los, und der Deutsche hatte Land. So entstand eine Kolonie nach der andern, Schulen wurden gebaut, und das Land mit verbesserten
*) 1 Arschin = 0,7112 m.