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weist auf diese Sondergruppe unter deu germanischen Friedhöfen Norddeutschlands hin*); und Kdssinna hat in neuerer Zeit die Grenzen dieses Formenkreises näher beschrieben**). Er erkennt als seinen Träger „den großen Völkerschaftsbund der Jrminonen" oder Sweben, der Jahrhunderte später noch dasselbe Gebiet inne gehabt hat und in den Werken des römischen Schriftstellers Tacitus um 100 nach Christus genannt wird. Die Stämme dieser Gruppe bewohnten Ostholstein, Osthannover und das östliche Braunschweig, ferner die Altmark, die Gegend von Zerbst und die beiden Kreise Jerichow, Mecklenburg, Vorpommern und Hinterpommern bis zur Rega und von der Provinz Brandenburg den westlichen Teil, also Prignitz, Ruppin, Havelland, Zauche mit Kreis Lnckau und Kalau, Niederbarnim, Templin und Prenzlau.***) Diesem Stammesverband gehörte eine ganze Anzahl von Völkerschaften an, von denen die der Semnonen einige Jahrhunderte später als die vornehmste gerühmt wird. Wie sich die Wohnsitze der einzelnen Völkerschaften in den vorchristlichen Jahrhunderten in dem umschriebenen Gebiet verteilt haben, ist noch nicht ermittelt; und so müssen wir uns noch die Antwort darauf versagen, welcher Stamm der swebisch-irminonischen Völkerfamilie die Prignitz bewohnte und bei Pritzwalk vor mehr als 2000 Jahren seine Toten bestattet hat.
So führen die Pritzwalker Funde uns tief in die germanische Vorzeit und in die Probleme der Altertumswissenschaft hinein, und sie bedeuten einen erheblichen Schritt vorwärts in der Erforschung der vorchristlichen Eisenzeit unserer Heimat. Freilich soll dabei nicht übersehen werden, daß manche Probleme, die mit ihnen in Zusammenhang stehen, noch der Lösung harren, wie oben mehrfach angedeutet wurde. Die Untersuchung unserer Urnenfriedhöfe ist eben noch nicht abgeschlossen, sondern noch im vollsten Gange begriffen; und es wird noch jahre- und jahrzehntelanger Forscherarbeit bedürfen, ehe wir die geheimnisvolle Sprache dieser Bodenurkunden ausreichend entziffert haben.
Die Pritzwalker Grabung ist kein Abschluß, sondern stellt Forderungen an die Zukunft. Und wenn zum Schluß hier die Hoffnung ausgesprochen wird, daß sie in recht vielen Orten unserer Heimat Nachfolger findet, sei damit der Wunsch verbunden, daß die Ausgrabungen des Museums überall soviel tatkräftige Mitarbeit und liebenswürdige Unterstützung finden wie in dieser Stadt.
Waren die alten Germanen größer als wir?
Durch die Schilderungen der römischen Schriftsteller haben wir uns gewöhnt, die Germaneil als körperlich gewaltige Gestalten uns vorzustellen, die um ein beträchtliches breiter und größer waren als wir kümmerlichen Nachfahren. Nur solche Riesenmenschen, so bilden wir uns ein, waren fähig, das mächtige Römer- reich zu zerschlagen, Roms kampfgewohnte Legionen zu zerschmettern.
Ist denn solche Vorstellung richtig? Man hat sich oft mit dieser Frage beschäftigt, sie ist deshalb nicht so leicht zu lösen, weil das Altertum und auch unsere Vorfahren in vorgeschichtlicher Zeit die Sitte der Leichenverbrennuug geübt haben, sodaß uns nur geringfügige Reste von den Knochen erhalten sind. Und wo uns Skelette der Vorzeit erhalten sind, ist die Zugehörigkeit zur germanischen Rasse häufig nicht mehr zu erweisen.
Müssen wir also, wie ich es eimal vor dem Kriege in einer Aussprache hörte, an „Degeneration" glauben? Müssen wir annehmen, daß unser Geschlecht kleiner ist als die Helden der Hermannsschlacht? Es ist das wohl ebensowenig
*) Knorr, Friedhöfe der älteren Eisenzeit in Schleswig-Holstein, S. 14 f.
**) Kossinna, Ursprung und Verbreitung der Germanen in vor- und srnhgeschicht-
Plauderei von Dr. Gensichen.
licher s
'»**) s. Kossinna, a. a. O.