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CAMPUS
GERECHTIGKEIT UND RECHTSSTAAT
Bärbel Bohley diskutierte mit Studenten
Bilden die Begriffe Gerechtigkeit und Rechtsstaat eine Einheit, oder sind sie hierzulande etwas vollkommen Verschiedenes? Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley jedenfalls hat nach ihren Angaben das eine gewollt und das andere bekommen. Zum wiederholten Male bedauerte sie dies, als sie im Dezember von Prof. Dr. Dieter C. Umbach im Namen der Juristischen Fakultät zu einer Diskussionsrunde eingeladen wurde. Dieses Zitat stand oben auf der Interessenliste der juristisch geschulten studentischen Hörerschaft. So erhielt Bärbel Bohley „Nachhilfeunterricht“ in Sachen Rechtsstaat dahingehend, daß dieser nicht immer Gerechtigkeit geben könne, wohl aber eine Norm zur Rechtsfindung. Bärbel Bohley ihrerseits fühlte sich ob dieser Position mißverstanden und brachte zum Ausdruck, daß ihr Zitat „Wir wollten Gerechtigkeit und erhielten den Rechtsstaat“ nur in Zusammenhang mit der Revolution von 1989 zu sehen sei. „Revolution ist ein angebrachter Begriff“, sagte die Bürgerrechtlerin. Ihr wäre es 1989 um das Problem der Aufarbeitung und Wiedergutmachung der von der SED-Diktatur geschehenen Verbrechen gegangen; daß nun aber einige dieser Verbrechen auch im Rechtsstaat der Bundesrepublik gerechtfertigt seien, empörte sie doch zutiefst.
Bürokratisch-zentralistische Steuerungsmechanismen in Politik und Wirtschaft sind zum Scheitern verurteilt: Diese Kernthese explizierte Edeling anhand staatssozialistischer Wirtschaftssteuerung auf der einen, aus der Problematik ausdifferenzierter gesellschaftlicher Handlungssysteme moderner westlicher Gesellschaften auf der anderen Seite. Die Internalisierung der Wirtschaft durch das politische System in der DDR beinhaltete für Edeling mehr als eine von außen oktroyierte Herrschaft der politischen Bürokratie über die Wirtschaft. Mit der Internalisierung der Wirtschaft in das politische System gehorchte wirtschaftliches Handeln primär politischen Imperativen, maß sich die Effizienz wirtschaftlichen Handelns eher politisch an ihrem Beitrag zur Systemstabilisierung und Machterhaltung als an wirtschaftlichen Kriterien. Die Organisationssoziologie in der
Sie bemängelte jedoch auch die MfS- und Alt-SED-Funktionäre, von denen niemand bereit wäre, Taten zu gestehen und Verantwortung dafür zu übernehmen. Konkrete Namen - auch aus der Potsdamer PDS-Par- tei - blieb Bärbel Bohley nicht schuldig. Denn; In der Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit müßten ihrer Meinung nach die Politiker Antworten finden und nicht die Gerichte.
Bei soviel Vergangenheitsbewältigung mußte man schließlich auch auf ihre eigene und die des „Neuen Forums" kommen. Die ersten Bürgerrechtsbewegungen in der damaligen DDR verstanden sich zuerst wohl nur als kritik- und reformbringendes Element. Erst nach halbjährigem Zwangsunterricht in Sachen Opposition, den Bärbel Bohley 1988 aufgrund einer Ausweisung aus der DDR in die Bundesrepublik erhielt, erkannte sie, daß gut funktionierende Demokratie nur mit einer Opposition zustande kommen könne. Dies führte nach ihrer Rückkehr zur Gründung des Neuen Forums. Aber nicht nur in der Bundesrepublik holte sich Bärbel Bohley Informationen über die demokratischen Züge eines gut funktionierenden Staates. Nach der friedlichen „Revolution“ nutzte sie die gewonnene Freiheit und besuchte u.a. die USA, in der ihr die „Townmeetings“ - eine Form der Demokratie von unten - sehr zusag
DDR ist diesen Deformationen gegenüber nicht blind gewesen. Die Tabuisierung wirtschaftlicher und politischer Strukturen und ideologisch monopolisierter Wirklichkeitsinterpretationen entzog jedoch der Organisationssoziologie ihren eigentlichen Forschungsgegenstand. Seit den 70er Jahren verhinderte eine Kampagne gegen die „Ky- bernetisierung“ der Gesellschaftswissenschaften im allgemeinen und die Organisationswissenschaften im besonderen die Entwicklung organisationssoziologischer Forschungsstrategien und ihre Rezeption in den Zweigsoziologien von Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Edeling wandte sich gegen einseitig strukturalistische wie einseitig individualistische Denkweisen in den Vorstellungen des „homo sociologicus" oder des „homo oeconomicus“. Im Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Institutionen verbinden
Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley folgte einer Einladung von Prof. Dr. Dieter C. Umbrach und diskutierte mit den Studenten über „Gerechtigkeit und Rechtsstaat". Foto: Tribukeit
ten und übernehmenswert erschienen.
Daß die Bürgerrechtsbewegung letztlich so erfolglos blieb, wie weithin angenommen, bestritt die Bürgerrechtlerin energisch. Schließlich hätten die Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen den Stein des Anstoßes ins Rollen gebracht. Allerdings wollte, so Bohley, „wohl niemand so schnell die vom größten Teil der Bevölkerung erstrebte Einheit Deutschlands“. Daß sich heute die eigentlich Schuldigen am Verkauf der DDR hinstellten und heulten, könne sie nicht verstehen. „Früher schossen sich die Verlierer eine Kugel durch den Kopf, heute jammern sie nur.“ Sven Stolpe
Prof. Dr. Edeling (rechts) Foto: Tribukeit
sich für ihn Struktur- und Handlungstheorie in einer Sicht, die die Entscheidungsfreiheit des einzelnen in seiner Verankerung in einer Gesellschaft sucht, die weder homogen noch gleichgeschaltet ist, sondern aus autonomen Handlungssystemen besteht, deren Konflikte die Wahl- und Handlungsfreiheit des einzelnen begründen. Gerade in der Gegenwart stelle institutioneller Wandel in Wirtschaft, Politik und Verwaltung im Spannungsfeld von bürokratischer und marktlicher Steuerung und öffentlichem Diskurs große Organisationen ebenso wie die Organisationssoziologie vor neue praktische und theoretische Herausforderungen.
Doris Blütner/Andre Metzner
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SYSTEMZWANG UND HANDLUNGSAUTONOMIE
Prof. Dr. Thomas Edeling hielt seine Antrittsvorlesung
Organisation und Organisationssoziologie im Staatssozialismus standen im Mittelpunkt der Antrittsvorlesung, die Thomas Edeling als neu berufener Professor für Organisations- und Verwaltungssoziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Uni Potsdam am kürzlich hielt. Rund hundert interessierte Zuhörer aus Wissenschaft und Öffentlichkeit hatten sich dazu eingefunden.
PUTZ 1/95