WISSENSCHAFT AKTUELL
„FLIEGENBEINE" ZÄHLEN AM WOCHENENDE
Studenten erforschen Demokratisierungsprozesse im Schulwesen
Fünf Jahre sind seit der Wende vergangen. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen hat sich auch die Schulwirklichkeit im Osten Deutschlands gewandelt. Dabei spielen Prozesse der Demokratisierung des Schulwesens eine erhebliche Rolle. Lehramtsstudenten des Pädagogischen Institutes Cottbus der Universität Potsdam, die als Schüler selbst die DDR-Einheitsschule kennengelernt hatten, wollten nun ergründen, wie in Cottbusser Grundschulen demokratische Entscheidungen herbeigeführt werden, welche Ergebnisse dabei erreicht wurden, welche Probleme auftreten, aber auch welche Grenzen der Mitwirkung auferlegt sind. Daß sie sich dabei speziell der Elternmitwirkung an Grundschulen zuwandten, lag an ihrem Ausbildungsprofil als künftige Primarstufenlehrer, den gegebenen zeitlichen, materiellen und finanziellen Möglichkeiten sowie den Absichten helfender Partner.
Ausgangspunkt der Überlegungen war, daß entsprechend des Grundgesetzes Kindererziehung das natürliche Recht und die Pflicht der Eltern ist, hingegen das Schulwesen zum Hoheitsbereich des Staates gehört. Die Studenten befaßten sich also zunächst mit dem Grundgesetz und hinterfragten die darin getroffene Entscheidungen nach ihrer Absicht und Wirksamkeit. Schließlich bilden Minderjährige nicht lediglich Objekte der Erziehung, sondern sind mit zunehmendem Alter und zunehmender geistiger und körperlicher Reife eigenverantwortlich für ihre individuelle Entwicklung.
Entsprechend des Ersten Schulreformgesetzes für das Land Brandenburg und der erlassenen Verordnung über die Mitwirkung der Schülerinnen und Schüler, der Eltern und der Lehrkräfte sollen Partizipation ermöglicht und Selbstbestimmung gestärkt werden. Dürfen aber beispielsweise Eltern die Grundsätze der Leistungsbewertung durch den Lehrer kennen, und inwieweit sind diese Grundsätze durch Eltern beeinflußbar? Welche Bedingungen sind notwendig, damit die Interessenvertretungen der Eltern ihren selbstbestimmten Zweck erfüllen können? Um diese und andere Fragen in den Beziehungen zwischen Eltern und Schule aufhellen zu können, haben sich insgesamt fünfzehn Studierende des Hauptstudiums und drei Studierende des Grundstudiums unter der Anleitung von zwei Lehrkräften über einen Zeitraum von vier Semestern mit der Elternmitwirkung an Cottbusser Grundschulen befaßt.
Nach der Erarbeitung eines Fragebogens und dessen Erprobung mittels einer Pilotstudie an zwei Cottbusser Grundschulen war die Forschungsstrategie gründlich zu durchdenken. Damit das Vorhaben von den entsprechenden Institutionen und Gremien mitgetragen würde, plante und führte die studentische Forschungsgruppe Gespräche mit dem Schulrat für die Primarstufe, dem Kreiselternrat, Schulleitern und Elternkonferenzen. Die Lehrkräfte wurden nur aktiv, wenn das Projekt zu scheitern drohte, z.B. als ein Schulleiter sich verweigerte oder als Vertreter des Kreiselternrates vom Forschungsprojekt mehr forderten, als dieses hergeben konnte.
Innerhalb von sieben Tagen wurden an allen zwanzig Cottbusser Grundschulen 776 per Zufallsstichprobe ermittelte Elternhäuser befragt. Das dauerte - wie vorher bei einer Probebefragung mit Außenstehenden ermittelt worden war - pro Befragung 35 bis 45 Minuten. Danach wurden die Antworten anonymisiert und mit Akribie und leider ohne ausreichende computergestützte Auswertungsmethoden von den Studierenden ausgewertet. Das Fehlen einer entsprechenden Software führte dazu, daß an zwei Wochenenden mit aller Kraft „Fliegenbeine ausgezählt" wurden.
Nunmehr liegen die Arbeitsergebnisse als komplexer Forschungsbericht vor und sollen der weiteren Forschung und der Lehre dienen, Hilfe für politische Entscheidungen im Territorium sein und Anregungen für die Lehrerfortbildung sowie Handreichung für Elternvertreter darstellen. Global wurde durch die Studenten festgestellt, daß das Interesse der Eltern an der schulischen Erziehung der eigenen Kinder gewachsen ist und weiter wächst. Demgegenüber sind die Beziehungen zwischen Eltern zwecks allgemeiner Einflußnahme auf schulische Erziehung unterschiedlich ausgeprägt. Gemeinschaftliche, zeitlich und räumlich begrenzte Vorhaben führen oft zu koordiniertem Handeln und umgekehrt. Mitunter konstituieren sich Gruppeninteressen von Eltern nur dann, wenn gegen schulische, schulamtliche oder schulverwaltungsamtliche Vorhaben etwas durchgesetzt werden soll.
Die befragten Eltern äußerten mehrheitlich die Auffassung, daß sich Elternmitwirkung vor allem mit Informations- und Beratungsrechten verbinde. Problematisch erweise es sich, zum richtigen Zeitpunkt über die erforderlichen Informationen zu verfügen. Als Bezugsperson der Eltern dominiert eindeutig der Klassenleiter. Als Begegnungsstätte zwischen Eltern und Schule überragt deshalb auch der Elternabend. Dabei interessieren sich die Eltern primär für Prinzipien der Leistungsbewertung, den Leistungsstand der Klasse, Lehr- und Lernmethoden, die Wahl des weiteren Bildungsgangs und die äußerlichen Lernbedingungen.
So, nun kann Ullis Klassenlehrer kommen!
i.
I
Zeichnung: Hans-Jürgen Starke
Daß Hausbesuche umstritten sind, ist ein weiteres Ergebnis der Studie. Als Rahmen von Kontakten werden Hausbesuche nur zu 6,34% angeführt. Auch Unterrichtsbesuche bilden mit 5,22% die Ausnahme. Sofern man von „Häufigkeit" sprechen kann, gibt es eine gewisse Konzentration im zweiten und im dritten Schuljahr, danach nehmen sie ab und sind im sechsten Schuljahr gleich null. Insgesamt kann folgende Unterscheidung festgehalten werden: Die Institution Schule trägt die Hauptverantwortung für die Bildung und Erziehung des Schulkindes bei schulischen Veranstaltungen, die Eltern tragen im Prinzip die Hauptverantwortung außerhalb der Schule. Danach befragt, womit sie sich vorrangig beschäftigten, antworteten Elternvertreter: erstens mit Festen, Höhepunkten, Feiern; zweitens mit materiell-technischen Problemen sowie der Bereitstellung von Lern- und Unterrichtsmitteln; drittens mit der Schulentwicklungskonzeption; viertens mit dem allgemeinen Leistungsstand der Schüler, fünftens mit Disziplinproblemen.
Als Elternvertreter in einer offenen Frage gebeten wurden, Beispiele für Aktivitäten im schulischen Leben zu nennen, die auf persönliches Engagement der Elternsprecher zurückzuführen seien, wurden stichpunktartig genannt: Feste, Feiern, Disziplinver- besserungen, Offenlegung von Informationsbeziehungen, Schulwegsicherung, Ausgestaltung von Klassenräumen, Erläuterung von Unterrichtsmethoden, Integration von behinderten Kindern, Klassenfahrten, Schulhofgestaltung. Eine Hypothese geht mittlerweile in die Richtung, daß sich die Elternsprecher in den ersten Klassen stärker um Prozesse der Bildung und Erziehung kümmern und sich in höheren Stufen vorwiegend schulorganisatorischen Problemen widmen.
Erste Auswirkungen der Studie sind Fortbildungsangebote des Pädagogischen Landesinstituts Brandenburg für Primarstufenlehrer zur Elternarbeit und Gesprächsrunden der Pädagogischen Werkstatt Cottbus für Eltern und Elternsprecher, die sich großer Nachfrage erfreuen. Klaus Lange
PUTZ 1/95
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