FORUM
EINE GANZ SUBJEKTIVE BILANZ
Im fünften Jahr der deutsch-deutschen Vereinigung
Unter der Rubrik „Forum“ der PUTZ haben Leserinnen und Leser die Möglichkeit, zu Entwicklungen, Ereignissen und Geschehenem an dieser Universität Stellung zu nehmen. Der folgende Beitrag stammt von der Biologie-Studentin Heike Kunert und beschäftigt sich mit dem deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß und seinen Auswirkungen. Obwohl die Universität Potsdam bei diesem Thema nur ein kleines Baustein- chen darstellt, soll er doch in seiner ganzen Länge abgedruckt werden: Schließlich ist der im Rahmen der sommerlichen Podiumsdiskussion zur personellen Erneuerung formulierte Aufruf des Rektorates, dieses Thema doch in den einzelnen Bereichen der Universität zu diskutieren, nach wie vor aktuell. Heike Kunerts Artikel kann als ein Beitrag dazu gesehen werden. Hg.
„Wie sagte Uta Sandig auf der Podiumsdiskussion zum ‘Prozeß der personellen Erneuerung’ an der hiesigen Universität: '..., daß Täter und Opfer oft sehr nah beieinanderliegen'." Aber Täter und Opfer liegen nicht nah beeinander - sie bedingen einander. Es war längst an der Zeit, daß sich die Universität ihrer Vergangenheit und ganz besonders der ihrer Mitarbeiter annahm. Bevor aber Vergangenheit bewältigt werden kann, muß sie aufgearbeitet werden. Das ist mit einer Podiumsdiskussion nicht abgetan. Auch wir Studenten sollten bestrebt sein, den Erneuerungsprozeß an unserer Uni voranzutreiben. Das fängt schon damit an, daß wir unser Umfeld kritischer betrachten müssen. Der Erneuerungsprozeß geht gerade uns Studenten etwas an, und deshalb bedarf es auch unserer Meinungen. (Schweigen wir eigentlich nicht zu oft?)
Es ist nur richtig, wenn die Überprüfung der Professoren durch die Gauck-Behörde ihren Anfang nimmt. Wer von uns möchte nicht wissen, wer da im weißen Kittel oder Anzug steckt und hinter dem Rednerpult beachtenswerte Vorlesungen von sich gibt. Wir sollten öfters darüber nachdenken, welche Person sich hinter der respekteinflößenden Fassade versteckt. Personsein und Menschsein sind nämlich zwei ganz verschiedene Sachen. Nach dieser ersten Diskussionsrunde müssen weitere folgen, in der Ergebnisse der Überprüfung auch für uns Studenten öffentlich gemacht werden. Ob das Lernen an einer Universität Spaß macht oder nicht, hängt auch immer von der Atmosphäre ab, und die vermitteln nicht zuletzt Doktoren und Professoren. Zwielichtigkeiten sind da gänzlich fehl am Platz.
Und wer von uns Studenten sagt, daß ihm
solche Diskussionen egal sind und er sowieso nichts verändern kann, der hat zu schnell vergessen. Weil aber Erinnerung etwas sehr Kostbares ist, sollte man sie sich öfter zu- rückrufen. Ich habe das einmal getan:
Noch gut in Erinnerung sind mir die Parolen „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“ - Parolen, die vor nun schon fünf Jahren - auf ostdeutschen Straßen geschmettert wurden. Die erste wurde Realität, mit letzterer scheinen wir so unsere Probleme zu haben. Die Zeit Ende 1989 war schön, man war wieder Mensch und nicht allein, denn viele auf den Straßen dachten genauso wie man selbst. DDR-Fahnen wurden zerrissen und letztlich auch die innere Befangenheit. In den Schulen durfte wieder offen über Politik diskutiert werden, wenn auch noch mit den falschen Lehrern. Es fiel nicht leicht, die innere Hemmschwelle zu überwinden. Offen diskutieren - wir hatten es nie gelernt. Überhaupt war alles in Bewegung, emotionsgeladen und so aussichtsreich. Schließlich konnte es nur besser werden. Manchem ging es nicht schnell genug, und er pilgerte sogleich in das gelobte Land. Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz lagen dicht beeinander. Bald dominierte das Abschiednehmen. Freunde gingen gen Westen, schrieben noch ein paarmal, bevor die Gleichgültigkeit von ihnen Besitz ergriff.
Das Einheitsgrau im Leben des DDR-Bürgers wurde übermalt mit den bunten Farben des Westens. Jede Fahrt in den Westen wurde zur Fahrt in die neue Welt. Kolumbus muß sich so gefühlt haben, als er Amerika entdeckte. Die Berührungsängste mit der westlichen Neutralität waren groß. Das Begrüßungsgeld nahm man mehr mit Scham als mit Dankbarkeit entgegen. Dann wurde man zum Einkaufsbummel losgeschickt. Dort, wo Werbung Realität wurde, wo Leuchtreklame den Blick von vielen verklärte, wo man große Autos bestaunen konnte, die manchem später das Leben kosteten, wo Reisebüros an helle Strände einluden, wo Junkies und Penner zum Stadtbild gehörten. Als man sein trautes Heim wieder betrat, war man froh, die Tür hinter sich zu schließen. Wohlige Wärme kroch den Körper hinauf, und das tat gut, denn man spürte, es würde draußen bald viel kälter werden. Die große Zeit des Umbruchs und der Illusionen war vorbei. Jetzt hieß es, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. In der Schule wurde wieder gelernt, unter anderen Voraussetzungen, mit anderen Zielen. Manche hatten kein Ziel mehr. Es kamen neue Lehrer, andere gingen zu Recht, wiederum andere blieben zu Unrecht. Neue Horizonte eröffneten sich, unzugängliche Wege durften wieder Trampelpfade werden - gottseidank.
Nachrichten, Talk-Shows und Zeitungen befaßten sich mit Vergangenheitsbewältigung. Aber Vergangenheit läßt sich nicht bewältigen. Das führt höchstens zu geschichtlichen Betriebsunfällen. Die Existenz der DDR war wohl so eine Art geschichtlicher Betriebsunfall, und mancher Historiker fühlte sich ganz wohl in ihr. Bald merkte man, daß vor der Bewältigung die Aufarbeitung kommen muß. Erste Akteneinsichten ließen Freunde zu Feinden werden. Wieder hieß es Abschiednehmen von „Freunden" - ein Abschied, der nicht schwerfiel, sondern Gewißheit brachte. Viele in Chefetagen fingen an, ein Doppelleben zu führen, und sie führen es noch heute.
Geistige Metamorphosen gibt es nun einmal nicht; schon gar keine, die die Weltanschauung betreffen. Und unerwünschte rote Hüllen kann man nicht einfach abstreifen, denn zur Häutung ist der Mensch gänzlich ungeeignet. Der Versuch, über den eigenen Schatten zu springen, scheitert zumeist an der Tatsache, daß die Natur es einem schlicht- weg verbietet. Verfolgen wird er nur diejenigen, die andere verfolgt haben - ganz unabhängig vom Stand der Sonne.
Keine Entschuldigung läßt Bautzen und verzweifelte Selbstmorde ungeschehen machen. Jeder sollte sich davor hüten, Täter zu Opfern zu machen und den Mantel des Schweigens um Verbrechen zu hüllen. Wir sollten behutsamer, d.h. sorgfältiger mit der DDR- Geschichte umgehen. Damit sind vor allem die Medien gemeint und die Politik. Nichts darf totgeschwiegen, aber auch nichts totgeredet werden.
Nach fünf Jahren Wiedervereinigung sind wir Ostdeutschen längst auf den Boden der Realität zurückgekehrt. Jeder hat gelernt, daß nach Sternen zu greifen sich nicht lohnt. Entweder faßt man ins Leere oder verbrennt sich. Resignation und Politikerverdrossenheit machten sich bald breit. Viele mußten erst begreifen lernen, daß der „goldene" Westen keine Pralinenschachtel ist, aus der man sich das Beste aussuchen darf, manches nur anbeißt und mit bitterer Miene zurücklegt. Gegessen muß alles werden, auch, wenn manches schwer verdaulich ist. Die Politiker hätten mit Versprechungen sparsamer umgehen müssen. Geschwätz allein hat bekanntlich noch keinen satt gemacht. Manche Metapher sollte man nicht allzu wörtlich nehmen. Für manche „blühende Landschaft“ keimt noch nicht einmal der Same.
Uns Ostdeutsche unterscheidet wohl noch eine ganze Menge von Westdeutschen. Man ist aber auch nicht verpflichtet, sich ganz und gar anzupassen. Und wenn schon Anpassung, dann bitte auf beiden Seiten. Ein Schattendasein zu führen - dazu haben wir
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PUTZ 1/95