Heft 
(1.1.2019) 01
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FORUM

EINE GANZ SUBJEKTIVE BILANZ

Im fünften Jahr der deutsch-deutschen Vereinigung

Unter der RubrikForum der PUTZ haben Leserinnen und Leser die Mög­lichkeit, zu Entwicklungen, Ereignissen und Geschehenem an dieser Universität Stellung zu nehmen. Der folgende Bei­trag stammt von der Biologie-Studentin Heike Kunert und beschäftigt sich mit dem deutsch-deutschen Vereinigungs­prozeß und seinen Auswirkungen. Ob­wohl die Universität Potsdam bei die­sem Thema nur ein kleines Baustein- chen darstellt, soll er doch in seiner ganzen Länge abgedruckt werden: Schließlich ist der im Rahmen der som­merlichen Podiumsdiskussion zur per­sonellen Erneuerung formulierte Aufruf des Rektorates, dieses Thema doch in den einzelnen Bereichen der Universität zu diskutieren, nach wie vor aktuell. Heike Kunerts Artikel kann als ein Bei­trag dazu gesehen werden. Hg.

Wie sagte Uta Sandig auf der Podiumsdis­kussion zumProzeß der personellen Erneue­rung an der hiesigen Universität: '..., daß Täter und Opfer oft sehr nah beieinanderlie­gen'." Aber Täter und Opfer liegen nicht nah beeinander - sie bedingen einander. Es war längst an der Zeit, daß sich die Universität ihrer Vergangenheit und ganz besonders der ihrer Mitarbeiter annahm. Bevor aber Ver­gangenheit bewältigt werden kann, muß sie aufgearbeitet werden. Das ist mit einer Po­diumsdiskussion nicht abgetan. Auch wir Studenten sollten bestrebt sein, den Er­neuerungsprozeß an unserer Uni voranzu­treiben. Das fängt schon damit an, daß wir unser Umfeld kritischer betrachten müssen. Der Erneuerungsprozeß geht gerade uns Stu­denten etwas an, und deshalb bedarf es auch unserer Meinungen. (Schweigen wir eigent­lich nicht zu oft?)

Es ist nur richtig, wenn die Überprüfung der Professoren durch die Gauck-Behörde ihren Anfang nimmt. Wer von uns möchte nicht wissen, wer da im weißen Kittel oder Anzug steckt und hinter dem Rednerpult beachtens­werte Vorlesungen von sich gibt. Wir sollten öfters darüber nachdenken, welche Person sich hinter der respekteinflößenden Fassade versteckt. Personsein und Menschsein sind nämlich zwei ganz verschiedene Sachen. Nach dieser ersten Diskussionsrunde müssen weitere folgen, in der Ergebnisse der Über­prüfung auch für uns Studenten öffentlich gemacht werden. Ob das Lernen an einer Universität Spaß macht oder nicht, hängt auch immer von der Atmosphäre ab, und die vermitteln nicht zuletzt Doktoren und Profes­soren. Zwielichtigkeiten sind da gänzlich fehl am Platz.

Und wer von uns Studenten sagt, daß ihm

solche Diskussionen egal sind und er sowieso nichts verändern kann, der hat zu schnell vergessen. Weil aber Erinnerung etwas sehr Kostbares ist, sollte man sie sich öfter zu- rückrufen. Ich habe das einmal getan:

Noch gut in Erinnerung sind mir die Parolen Wir sind das Volk undWir sind ein Volk - Parolen, die vor nun schon fünf Jahren - auf ostdeutschen Straßen geschmettert wurden. Die erste wurde Realität, mit letzterer schei­nen wir so unsere Probleme zu haben. Die Zeit Ende 1989 war schön, man war wieder Mensch und nicht allein, denn viele auf den Straßen dachten genauso wie man selbst. DDR-Fahnen wurden zerrissen und letztlich auch die innere Befangenheit. In den Schu­len durfte wieder offen über Politik diskutiert werden, wenn auch noch mit den falschen Lehrern. Es fiel nicht leicht, die innere Hemmschwelle zu überwinden. Offen disku­tieren - wir hatten es nie gelernt. Überhaupt war alles in Bewegung, emotionsgeladen und so aussichtsreich. Schließlich konnte es nur besser werden. Manchem ging es nicht schnell genug, und er pilgerte sogleich in das gelobte Land. Wiedersehensfreude und Ab­schiedsschmerz lagen dicht beeinander. Bald dominierte das Abschiednehmen. Freunde gingen gen Westen, schrieben noch ein paar­mal, bevor die Gleichgültigkeit von ihnen Besitz ergriff.

Das Einheitsgrau im Leben des DDR-Bürgers wurde übermalt mit den bunten Farben des Westens. Jede Fahrt in den Westen wurde zur Fahrt in die neue Welt. Kolumbus muß sich so gefühlt haben, als er Amerika ent­deckte. Die Berührungsängste mit der west­lichen Neutralität waren groß. Das Begrüßungsgeld nahm man mehr mit Scham als mit Dankbarkeit entgegen. Dann wurde man zum Einkaufsbummel losgeschickt. Dort, wo Werbung Realität wurde, wo Leuchtreklame den Blick von vielen verklär­te, wo man große Autos bestaunen konnte, die manchem später das Leben kosteten, wo Reisebüros an helle Strände einluden, wo Junkies und Penner zum Stadtbild gehörten. Als man sein trautes Heim wieder betrat, war man froh, die Tür hinter sich zu schließen. Wohlige Wärme kroch den Körper hinauf, und das tat gut, denn man spürte, es würde drau­ßen bald viel kälter werden. Die große Zeit des Umbruchs und der Illusionen war vorbei. Jetzt hieß es, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. In der Schule wurde wieder gelernt, unter anderen Voraussetzungen, mit anderen Zielen. Manche hatten kein Ziel mehr. Es kamen neue Lehrer, andere gingen zu Recht, wiederum andere blieben zu Un­recht. Neue Horizonte eröffneten sich, unzu­gängliche Wege durften wieder Trampelpfa­de werden - gottseidank.

Nachrichten, Talk-Shows und Zeitungen befaßten sich mit Vergangenheitsbewälti­gung. Aber Vergangenheit läßt sich nicht be­wältigen. Das führt höchstens zu geschicht­lichen Betriebsunfällen. Die Existenz der DDR war wohl so eine Art geschichtlicher Be­triebsunfall, und mancher Historiker fühlte sich ganz wohl in ihr. Bald merkte man, daß vor der Bewältigung die Aufarbeitung kom­men muß. Erste Akteneinsichten ließen Freunde zu Feinden werden. Wieder hieß es Abschiednehmen vonFreunden" - ein Ab­schied, der nicht schwerfiel, sondern Gewiß­heit brachte. Viele in Chefetagen fingen an, ein Doppelleben zu führen, und sie führen es noch heute.

Geistige Metamorphosen gibt es nun einmal nicht; schon gar keine, die die Weltanschau­ung betreffen. Und unerwünschte rote Hül­len kann man nicht einfach abstreifen, denn zur Häutung ist der Mensch gänzlich unge­eignet. Der Versuch, über den eigenen Schat­ten zu springen, scheitert zumeist an der Tatsache, daß die Natur es einem schlicht- weg verbietet. Verfolgen wird er nur diejeni­gen, die andere verfolgt haben - ganz unab­hängig vom Stand der Sonne.

Keine Entschuldigung läßt Bautzen und ver­zweifelte Selbstmorde ungeschehen machen. Jeder sollte sich davor hüten, Täter zu Op­fern zu machen und den Mantel des Schwei­gens um Verbrechen zu hüllen. Wir sollten behutsamer, d.h. sorgfältiger mit der DDR- Geschichte umgehen. Damit sind vor allem die Medien gemeint und die Politik. Nichts darf totgeschwiegen, aber auch nichts tot­geredet werden.

Nach fünf Jahren Wiedervereinigung sind wir Ostdeutschen längst auf den Boden der Rea­lität zurückgekehrt. Jeder hat gelernt, daß nach Sternen zu greifen sich nicht lohnt. Entweder faßt man ins Leere oder verbrennt sich. Resignation und Politikerverdrossenheit machten sich bald breit. Viele mußten erst begreifen lernen, daß dergoldene" Westen keine Pralinenschachtel ist, aus der man sich das Beste aussuchen darf, manches nur an­beißt und mit bitterer Miene zurücklegt. Ge­gessen muß alles werden, auch, wenn man­ches schwer verdaulich ist. Die Politiker hät­ten mit Versprechungen sparsamer umgehen müssen. Geschwätz allein hat bekanntlich noch keinen satt gemacht. Manche Meta­pher sollte man nicht allzu wörtlich nehmen. Für mancheblühende Landschaft keimt noch nicht einmal der Same.

Uns Ostdeutsche unterscheidet wohl noch eine ganze Menge von Westdeutschen. Man ist aber auch nicht verpflichtet, sich ganz und gar anzupassen. Und wenn schon Anpas­sung, dann bitte auf beiden Seiten. Ein Schattendasein zu führen - dazu haben wir

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