DAS JAHR 1953 IM KALTEN KRIEG
Die Diskussionen hören auch durch neue Dokumente nicht auf - großes Symposium in Potsdam
Am Anfang war Egon Bahr. Er erzählte, wie am 16. Juni 1953 in seinem Büro beim RIAS eine Delegation Ostberliner Bauarbeiter erschien - aber ohne klares Programm, ohne Organisation und ohne Losungen. Bahr leistete Hilfe, damit die Forderungen der Arbeiter klar vom Rundfunk ausgestrahlt werden konnten. Zum Schluß der Konferenz, die vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, das eng mit der Universität Potsdam zusammenarbeitet, dem Cold War International History Project, Washington, dem National Security Archive, Washington, dem Center for the Study of Force and Diplomacy, Temple University und der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg organisiert wurde, gab es einen weiteren Augenzeugen: den ehemaligen ostdeutschen Bürgerrechtler Hans Misseiwitz und seine Erinnerungen an „Täbu“ und „Trauma“ hinsichtlich des 17. Juni im Alltag der DDR. Dazwischen berichteten knapp fünfzig Wissenschaftler über ihre Forschungen, die meisten auf der Basis neuer Dokumente aus den Archiven der ehemaligen kommunistischen Welt.
Aber auch unter den Archivforschern gab es Augenzeugen, wie den Amerikaner Robert Bowie, 19S3 Chef des Policy Planning Staff im Außenministerium des U.S. Präsidenten Dwight D. Etsenhower, und Andräs Hegedüs, ehemaliger Sekretär des Petröfi-Zirkels. Der 17. Juni, besonders seine Geschichtsschreibung, ist nicht tot, sondern lebendiger denn je, seit der SED-Staat sich dank sowjetischer Thnks gegen die eigene Bevölkerung durchsetzte. Ein besonderes Verdienst der Veranstalter dieser Konferenz war es, diese Lebendigkeit durch eine Mischung von wissenschaftlichen Vorträgen und Augenzeugenberichten zum Ausdruck zu bringen. Lebendig heißt auch kontrovers. Wie so oft seit der Öffnung der Archive der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten zeigte sich auch in Potsdam, daß neue Dokumente die persönlichen, politischen und moralischen Unterschiede, die es zwischen Historikern gibt, nicht ausgleichen werden. Fortschritte gibt es aber ganz bestimmt hinsichtlich unserer Kenntnisse über das, was sich eigentlich „drüben" - im Kreml, bei der SKK oder im SED-Politbüro - abgespielt hat. Für die Deutung all dessen gilt aber immer noch das Wort des niederländischen Historikers Pieter Geyl, wonach Geschichte eine Diskussion ist, die niemals aufhört.
Der erste Thgungstag fing mit einem „panel“ an, dessen Umfang typisch für die Konferenz war: nicht weniger als sieben mehr oder weniger prominente Wissenschaftler diskutierten über Ursachen und Folgen des 17. Juni. Es wurde relativ wenig darüber geredet, ob die Erhebung eine Arbeitererhebung oder eine Volkserhebung war oder vielleicht eine Revolution und Anfang vom Ende der DDR, obwohl Gerhard Beier (Kronberg) darauf bestand, daß es sich jedenfalls im Anfang um einen Bauarbeiteraufstand handelte. Damit ist aber noch nicht erklärt, warum im Jahre 1953 bis zum Juni mehr als 150.000 Leute die DDR verließen. Viele unter ihnen waren bestimmt keine Bauarbeiter, protestierten jedoch gegen dieselbe verfehlte Politik des „Planmäßigen Aufbaus der
Grundlagen des Sozialismus”, die von der SED seit Juli 1952 verfolgt worden war. Für eine eher langfristige Periodisierung dieser Krise in der DDR - etwa vom Herbst 1952 bis weit in das Jahr 1953 hinein - sprachen sich Ilko-Sascha Kowalczuk (Berlin) und Tbrsten Diedrich (Potsdam) aus.
Das Hauptthema der Veranstaltung war aber das internationale Vorfeld - der 17. Juni als Krise im Kalten Krieg. Es gab hier drei Sektionen: die sowjetische Deutschlandpolitik, insbesondere während des sogenannten „Beria-Interregnums“, die Lage 1952/53 in den sonstigen Staaten des Moskauer Imperiums und die Reaktion des Westens. Beim ersten Bereich - sowjetische Deutschlandpolitik 1952/53 - erstreckten sich die Positionen von einer sowjetischen Bereitschaft zur Neutralisierung Deutschlands und damit von Möglichkeiten für eine Ost-West- Verständigung über Deutschland (Elke Scherstjanoi, Berlin; Wilfried Loth, Essen) bis zu einer Glass Half-Füll Auffassung (Vladis- lav Zubok, Washington) und einer entschiedenen Verneinung einer sowjetischen Verständigungsbereitschaft oder -fähigkeit (Gerhard Wettig, Köln; Voitech Mastny Washington). Hier wurde am deutlichsten, daß auch neue Dokumente die Historiker kaum näher zueinanderbringen. Jedenfalls hat die Aufarbeitung der osteuropäischen Krise der späten Stalinzeit erst angefangen. Daß es interessante Ergebnisse geben kann, bewiesen die Arbeiten Mark Kramers (Cambridge, MA) und Andräs Hegedüs (Budapest) sowie auch das Briefingbook, vorgelegt von Christian Ostermann (National Secunty Archive/ Cöld War International History Project, Washington).
Weniger strittig waren die Schlußfolgerungen beim dritten Themenbereich - der Politik des Westens. Obwohl es auch im Westen noch immer Neues gibt (wie das jüngst von Ostermann aufgedeckte NSC-158 vom 26. Juni 1953, womit die Amerikaner auch nach dem 17. Juni in Osteuropa Schwierigkeiten für Moskau zu verursachen erhofften), handelt es sich hier doch hauptsäch-
Am 1 7 . Juni 1953 wurden die Proteste niedergeschlagen; der 10. November 1989 hingegen verlief friedlich. Repros: C.K.
lieh um Detailfragen. Weder die Regierung Eisenhower noch Bundeskanzler Adenauer waren im Juni 1953 bereit, den Protestierenden in der DDR direkte Hilfe zu leisten. Es war für sie auch nicht an der Zeit, neue Verhandlungsinitiativen zu entwickeln (wie Churchill das am 11. Mai vergebens versuchte). Erst mußte die (west)europäische Integration gesichert sein, danach würde diese westliche „Politik der Stärke“ vielleicht die Russen zur Kapitulation zwingen. Daß diese westliche Politik sich innerhalb von zwei Jahren mit ihrem sowjetischen Spiegelbild konfrontiert sah, war vielleicht voraussehbar, angesichts der unsicheren Lage im Sowjetimperium nach dem Tod Stalins jedoch nicht garantiert.
Aber die Sowjetunion vermochte es, den Aufstand niederzuschlagen und weiteren Volkserhebungen in ihrem osteuropäischen Machtbereich zuvorzukommen. Darüber hinaus wurde der angebliche Moskauer Befürworter einer Preisgabe der DDR, Beria, von seinen Rivalen politisch ausgeschaltet. Insgesamt verfestigte sich mit dem 17. Juni die Teilung Deutschlands. Das Legitimationsdefizit der SED hatte sich erheblich vergrößert. Außerhalb der Parteispitze glaubten sehr wenige Ostdeutsche, daß der Aufstand von westlichen „Provokateuren“ ausgelöst worden war. Mit diesem Interpretationsdilemma mußte die DDR in Zukunft auskommen. Wie Hans Misseiwitz am Ende der Konferenz bestätigte, schaffte sie es nie, Ruud von Dijk
PUTZ 1/97
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