CAMPUS
DIE EINZIGARTIGKEIT DES HOLOCAUST
Alan Rosenberg sprach an der Universität Potsdam
Auf Einladung von Prof. Dr. Karl Erich Grözinger aus der Philosophischen Fakultät I sprach Prof. Dr. Alan Rosenberg in diesem Wintersemester an der Universität Potsdam über „Questioning the Uniqueness of the Holocaust. A Philoso- phical Examination“.
Alan Rosenberg ist Professor für Philosophie am Queens College, New York, und Präsident der „Society for the Philosophie Study of Genocide and Holocaust”, die in den 70er Jahren gegründet wurde. Zu seinen Publikationen gehören „Echoes fromthe Holocaust. Philosophie Reflexions on a Dark Time", „Heidegger and the Holocaust" und „Post Modernism and the Holocaust“. Da seit Erscheinen des Buches von Daniel Jonah Goldhagen „Hitler’s Willing Executioners. Ordi- nary Germany and the Holocaust“ und dessen deutscher Übersetzung die Gemüter in Deutschland in Aufruhr geraten sind, knüpfte Rosenberg an die in den USA seit längerem geführte Debatte darüber an, ob der Holocaust einzigartig sei.
Rosenberg, der mehrere provozierende Thesen aufstellte und Saul Eriedländer, Leon Rapaport, Steven Katz oder Yehuda Bauer zitierte, stellte die Frage, warum die Einzigartigkeit gerade bezüglich des Mordes an den europäischen Juden und nicht anderer historischer Ereignisse, wie etwa an dem Mord an Armeniern durch die Türken, behauptet wird und wie der- Begriff der Einzigartigkeit in diesem Zusammenhang zu ver
stehen sei. Ist der Völkermord an den Juden ein Vorgang, der mit anderen Ereignissen vergleichbar wäre? War der Holocaust ein historisches Ereignis, dann geht er uns an, dann ist es nötig, ihn zu erforschen, ist er aber einzigartig, also mit histonschen Kategorien nicht faßbar, braucht er nicht erforscht zu werden. Ismar Schorsch behaupte sogar, daß die Einzigartigkeits-Obsession, das Beharren auf der Einmaligkeit dieses Völkermordes, Freunde einander entfremdet und jeglichen Dialog verhindert. Rosenberg postuliert angesichts dieser Positionen, daß es offenbar eines neuen Verständnisses des Begriffes „Einzigartigkeit“ bedarf oder man ihn ganz fallenlassen sollte. Ist er überhaupt legitim oder ist auch sein Gebrauch bereits eine Selbstverständlichkeit?
Die Frage der Einzigartigkeit des Holocaust, so Rosenberg, sei selbst einzigartig geworden. Schon die Wahl eines fremdsprachlichen Begriffes, der die Einzigartigkeitsdiskussion wesentlich befördert habe, ist ein Symptom dafür. Besonders bedenklich ist der das hebräische „Aufstiegsopfer' 1 aus dem Griechischen übertragende Tterminus Holocaust, „Ganzopfer", der ein Brandopfer für eine Gottheit bedeutet. Die Verwendung eines solchen ursprünglichen Begriffs für dieses Geschehen zeige, daß man nach einem Namen für etwas suchte, das mit der überkommenen Begrifflichkeit nur sehr schwer erfaßbar schien. Mit dem hebräischen „Shoah“, im biblischen Sinne eine Katastrophe oder Verwüstung, war man dem
Kern des Phänomens vielleicht etwas näher gekommen, wenn auch hier die Problematik des fremden Begriffs bleibt.
Für Rosenberg bedeutet der Begriff „Einzigartigkeit“, daß das damit Gemeinte dem historischen Verstehen und jeder Nachforschung entzogen ist, man mit seiner Verwendung deshalb sehr behutsam sein müsse, wiewohl man bezüglich des Holocaust darauf nicht verzichten könne. Doch bleibt es schwer zu bestimmen, was denn damit gemeint sei, worin diese Einzigartigkeit bestehe , warum wurde etwa der Abwurf der Atombombe auf Hiroschima oder Nagasaki nicht mit dem Begriff der Einzigartigkeit versehen? Will man die Charakterisierung des Holocaust als einzigartig beibehalten, muß man die Flage stellen, wann man einen historischen Vorgang so benennen kann.
Mit Emil Fackenheim glaubt Rosenberg, daß etwas Einzigartiges eine Transformation der Werte oder der Kultur mit sich bringen müßte, wie die industrielle Revolution etwa. Der Holocaust habe aber keinerlei Wandlung der Transformation in der Kultur bewirkt, wofür etwa die „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien ein untrügliches Zeugnis ablegten. Widerspruch von Zuhörern erntete Rosenberg, als er verneinte, daß das epochale Ereignis der Entstehung des Staates Israel als eine solche Transformation zu sehen wäre, denn für ihn sei dies keine Folge des Holocaust. Etwas rigoristisch definierte Rosenberg die „Einzigartigkeit“ als etwas, was das Verständnis des Menschen völlig umzukrempeln imstande wäre. Das aber sei im Falle des Holocaust nicht geschehen. Die Suche, den Holocaust zu begreifen, und die Debatte darüber ist also noch lange nicht zu Ende.
Sigrid Senkbeil
STÖRUNGEN AUF DER SPUR
Praktiker und Wissenschaftler diskutierten über „Sprache und Gehirn'
Sprechen gehört zu den alltäglichsten Dingen, ohne die menschliches Dasein undenkbar ist. Störungen in diesem Bereich beeinträchtigen das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen umso erheblicher. Daß Sprache und Gehirn in untrennbarem Zusammenhang stehen, ist wohl für jeden nachvollziehbar. Sprachstörungen dagegen zu diagnostizieren, zu analysieren, zu behandeln und theoretisch zu untersuchen, ist zweifellos ein Aufgabengebiet für Fachleute.
An der Potsdamer Uni zählt die Allgemeine Sprachwissenschaft zu einem ihrer Profilbereiche. Die dort Arbeitenden tragen in Lehre und Forschung der Thtsache Rechnung, daß sich die moderne Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zu einer kognitiven Wissenschaft entwickelte. So vermittelt der Diplomstudiengang Patholingu- lsük den Studierenden Wissen zum Sprach-
erwerb und zur Sprachverarbeitung, kogni- tiv-neurolinguistische Kenntnisse über Sprache und Gehirn, Grundlagen von Sprachstörungen sowie Verfahren zur Analyse, Diagnostik und Therapie von Sprachentwicklungsstörungen und erworbenen Sprachstörungen,
Viele Aspekte des Zusammenhangs von „Sprache und Gehirn“ sind Gegenstand wissenschaftlichen Streites. Um dieses Phänomen genauer unter die Lupe zu nehmen, luden vor einiger Zeit die Bereiche Psycholinguistik und Neurolinguistik des Institutes für Linguistik/Allgemeine Sprachwissenschaft, das Interdisziplinäre Zentrum für Kognitive Studien und das Zentrum für angewandte Patholinguistik der Universität Potsdam zu einer mehrtägigen Tägung. Zwölf nationale und internationale Referenten folgten dem Ruf. 120 Praktiker aus Klinik und Therapie, wie Logopäden, klinische Linguisten und
Neuropsychologen, Studierende und Forscher widmeten sich insbesondere der Psycho- und Neurolinguistik von Sprach-
na
VI
Gleich wird die kleine Elisabeth voller Begeisterung ihren Eltern von dem Märchen erzählen, das sie gerade über ihren Walkman hörte. Anderen Kindern bleibt diese Freude oftmals versagt. Denn sie haben Hemmungen, sich zu äußern, weil sie unter Sprachentwicklungsstorungen leiden. Fntri . 7n
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