300 STUNDEN ERINNERUNGEN AN DEN HOLOCAUST
Moses Mendelssohn Zentrum wertet mehr als 70 Zeitzeugen-Interviews aus
Zeit heilt viele Wunden. Die Wunden von Willi Frohwein wird sie jedoch nie heilen. Der Potsdamer hat fast zwei Jahre KZ-Haft in Auschwitz überlebt.„Der Riß ging so tief, die Narben werde ich immer spüren“, weiß der 74jährige. Seine Erinnerungen hat er im vergangenen Jahr dem Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum(MMZ) vermacht. Mehr als vier Stunden lang hat er für das„Archiv der Erinnerung“ des Instituts für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam vor laufender Kamera aus seinem Leben berichtet. Die Aufzeichnungen wurden zusammen mit mehr als 70 weiteren Zeitzeugenberichten jüdischer Holocaust-Überlebender im Berliner Haus der Wannseekonferenz archiviert und können dort von Besuchern genutzt werden. Das MMZ hat jetzt mit der wissenschaftlichen Auswertung des Video-Materials begonnen. Die Aufzeichnungen mit einer Länge von mehr als 300 Stunden sollen bis Ende des Jahres wissenschaftlich analysiert und pädagogisch nutzbar gemacht werden.
Für den Schulunterricht und HochschulSeminare stellt das MMZ derzeit in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung sechs Videobänder mit thematischen Schwerpunkten zusammen. Der Alltag in Auschwitz soll durch die jeweils halbstündigen Filme ebenso vermittelt werden wie die Verfolgung von Kindern im Dritten Reich, das jüdische Leben in Brandenburg vor, während und nach der Nazi-Diktatur und das Überleben von Juden im Exil. Begleitbroschüren mit historischen Hintergründen sollen die Videos ergänzen. „Neben der pädagogischen Nutzung ist für uns auch die wissenschaftliche Auswertung des Materials wichtig“, so die MMZ-Mitarbeiterin Cathy Gelbin. Ende des Jahres soll eine Aufsatzsammlung mit dem Titel ‚Videographie und Erinnerung“ erscheinen. Neben der Interpretation einzelner Interviews und einem Kapitel über den heutigen Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust soll der Band auch über die Bedeutung mündlicher Überlieferungen für die Geschichtswissenschaften Aufschluß geben. Während sich die sogenannte„oral history“ in den USA inzwischen als Form der Geschichtsdokumentation etabliert hat, ist sie in Deutschland nach wie vor umstritten. Für Cathy Gelbin sind die„erzählten Erinnerungen“ jedoch eine„unverzichtbare Ergänzung“ zu den objektiven Fakten des Holocaust:„Jede Quelle kann etwas anderes leisten und jede Quelle ist daher auch wertvoll.“
Während das Potsdamer Holocaust-Archiv im Land der Täter ein Novum ist, hat die Zeitzeugen-Befragung vor der Kamera in den USA bereits Tradition. 1979 begann die Yale University in New Haven Berichte von jüdischen Überlebenden des Nazi-Terrors aufzuzeichnen. Inzwischen umfaßt das dortige Videoarchiv rund 3.700 Bänder. Während der Dreharbeiten zu„Schindlers Liste“ kam auch Steven Spielberg auf die Idee, biografische Erzählungen von Holocaust-Überlebenden zu verfilmen. 2.600 Interviewer sandte der amerikanische Star-Regisseur 1994 in alle Welt aus. Bis jetzt wurden rund 30.000
Zeitzeugen in fast 40 Ländern befragt— 5000 davon in Deutschland. Ende 1997 will Spielberg mindestens 50.000 Videobänder an amerikanische Museen und Institute sowie an die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem übergeben.
Mit diesen Dimensionen kann das MMZProjekt nicht mithalten.„Auf die Menge kommt es uns auch nicht an, sondern auf die Qualität“, so Gelbin. Der wissenschafliche und pädagogische Anspruch unterscheide das Potsdamer Projekt von den ZeitzeugenBefragungen im Auftrag von Spielberg. Zudem sei das„Archiv der Erinnerung“. von Anfang an als Regionalprojekt für Berlin und Brandenburg geplant worden.„Es ist wichtig, daß die Videobänder hier in Deutschland verfügbar sind“, betont Gelbin. Das meint auch Willi Frohwein:„Im Haus der Wannseekonferenz weiß ich meinen Bericht in guten Händen.“ Das Interview mit den MMZ-Mitarbeitern hat der 74jährige auch aus persönlichen Gründen geführt. In seiner Familie war die KZ-Haft lange Zeit kein Thema.„Ich wollte nicht, daß meine Kinder wegen meiner Vergangenheit auf mich Rücksicht nehmen“. Erst mit Hilfe der Videoauf
zeichnung konnte er das langjährige Schweigen gegenüber seinen Kindern, seiner Enkelin und seinen Geschwistern brechen. „Meine Verwandten haben sich die Bänder bis zu viermal angesehen“, sagt Frohwein. Seitdem auch seine Familie genauer über seine Vergangenheit Bescheid weiß, sei er ruhiger geworden: ‚Viele sagen, ich kann nicht über die Erfahrungen reden, aber ich sage jetzt, ich muß darüber reden.“
mef
Erinnerungen an KZ-Haft und Verfolgung: Willi Frohwein hat die Tasche seiner Häftlingskleidung aus Auschwitz und seine„J-Kennkarte“ dem Haus der Wannseekonferenz vermacht. In der Gedenkstätte ist auch das„Archiv der Erinnerung“ des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums untergebracht. Für die Videodokumentation hatte Frohwein mehr als vier Stunden vor der Kamera über sein Leben während der Nazi-Diktatur berichtet. Foto: Tribukeit
INFORMATIONEN ZUR FORSCHUNGSFÖRDERUNG
DFG: Nachwuchsgruppen für die Biowissenschaften
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat ein Programm aufgelegt, das es jährlich drei exzellenten, noch nicht habilitierten Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern ermöglichen soll, in einer Forschungseinrichtung eine Nachwuchsgruppe auf der Grundlage einer mittelfristig gesicherten Förderzusage im Rahmen der bestehenden Infrastruktur der aufnehmenden Institution aufzubauen und sich dabei auch zu habilitieren. Neben den persönlichen Bezügen als Leiterin oder Leiter der Nachwuchsgruppe (bis BAT-O Ib) können alle für die Forschungsarbeiten notwendigen Mittel beantragt werden. Die Förderungsdauer beträgt bis zu fünf Jahre. Der Antrag kann vom An
tragstellenden selbst, aber zusammen mit der aufnehmenden Forschungseinrichtung gestellt werden. Diese muß in dem Antrag ihre Bereitschaft zur Aufnahme der Nachwuchsgruppe erklären. Frist für die Kurzbewerbung: 1. Juni 1997. Ansprechpartnerin bei generellen Fragen zum Programm ist Dr. Ingrid Ehses, Tel. 0228/885-2258.
European Science Foundation: Förderung der Sozialwissenschaften in Europa Das„Standing Committee for the Social Sciences“(SCSS) der„European Science Foundation“(ESF) hat ein Programm eingerichtet, um die Entwicklung von sozialwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten auf europäischer Ebene zu fördern, Es soll Fortsetzung nächste Seite
PUTZ 4/97
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