Heft 
(1.1.2019) 04
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300 STUNDEN ERINNERUNGEN AN DEN HOLOCAUST

Moses Mendelssohn Zentrum wertet mehr als 70 Zeitzeugen-Interviews aus

Zeit heilt viele Wunden. Die Wunden von Willi Frohwein wird sie jedoch nie heilen. Der Potsdamer hat fast zwei Jahre KZ-Haft in Auschwitz überlebt.Der Riß ging so tief, die Narben werde ich immer spüren, weiß der 74jährige. Seine Erinnerungen hat er im vergangenen Jahr dem Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum(MMZ) vermacht. Mehr als vier Stunden lang hat er für dasArchiv der Erinnerung des Instituts für eu­ropäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam vor laufender Kamera aus sei­nem Leben berichtet. Die Aufzeichnungen wurden zusammen mit mehr als 70 weite­ren Zeitzeugenberichten jüdischer Holocaust-Überlebender im Berliner Haus der Wannseekonferenz archiviert und können dort von Besuchern genutzt werden. Das MMZ hat jetzt mit der wissenschaftlichen Auswertung des Video-Materials begonnen. Die Aufzeichnungen mit einer Länge von mehr als 300 Stunden sollen bis Ende des Jahres wissenschaftlich analysiert und pädagogisch nutzbar gemacht werden.

Für den Schulunterricht und Hochschul­Seminare stellt das MMZ derzeit in Zusam­menarbeit mit der Landeszentrale für poli­tische Bildung sechs Videobänder mit the­matischen Schwerpunkten zusammen. Der Alltag in Auschwitz soll durch die jeweils halbstündigen Filme ebenso vermittelt wer­den wie die Verfolgung von Kindern im Drit­ten Reich, das jüdische Leben in Branden­burg vor, während und nach der Nazi-Dik­tatur und das Überleben von Juden im Exil. Begleitbroschüren mit historischen Hinter­gründen sollen die Videos ergänzen. Neben der pädagogischen Nutzung ist für uns auch die wissenschaftliche Aus­wertung des Materials wichtig, so die MMZ-Mitarbeiterin Cathy Gelbin. Ende des Jahres soll eine Aufsatzsammlung mit dem Titel ‚Videographie und Erinnerung erscheinen. Neben der Interpretation ein­zelner Interviews und einem Kapitel über den heutigen Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust soll der Band auch über die Bedeutung mündlicher Überlieferun­gen für die Geschichtswissenschaften Aufschluß geben. Während sich die soge­nannteoral history in den USA inzwi­schen als Form der Geschichtsdokumen­tation etabliert hat, ist sie in Deutschland nach wie vor umstritten. Für Cathy Gelbin sind dieerzählten Erinnerungen jedoch eineunverzichtbare Ergänzung zu den objektiven Fakten des Holocaust:Jede Quelle kann etwas anderes leisten und jede Quelle ist daher auch wertvoll.

Während das Potsdamer Holocaust-Archiv im Land der Täter ein Novum ist, hat die Zeitzeugen-Befragung vor der Kamera in den USA bereits Tradition. 1979 begann die Yale University in New Haven Berichte von jüdi­schen Überlebenden des Nazi-Terrors aufzu­zeichnen. Inzwischen umfaßt das dortige Videoarchiv rund 3.700 Bänder. Während der Dreharbeiten zuSchindlers Liste kam auch Steven Spielberg auf die Idee, biogra­fische Erzählungen von Holocaust-Überle­benden zu verfilmen. 2.600 Interviewer sand­te der amerikanische Star-Regisseur 1994 in alle Welt aus. Bis jetzt wurden rund 30.000

Zeitzeugen in fast 40 Ländern befragt 5000 davon in Deutschland. Ende 1997 will Spiel­berg mindestens 50.000 Videobänder an amerikanische Museen und Institute sowie an die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem übergeben.

Mit diesen Dimensionen kann das MMZ­Projekt nicht mithalten.Auf die Menge kommt es uns auch nicht an, sondern auf die Qualität, so Gelbin. Der wissenschafliche und pädagogische Anspruch unterscheide das Potsdamer Projekt von den Zeitzeugen­Befragungen im Auftrag von Spielberg. Zu­dem sei dasArchiv der Erinnerung. von Anfang an als Regionalprojekt für Berlin und Brandenburg geplant worden.Es ist wich­tig, daß die Videobänder hier in Deutschland verfügbar sind, betont Gelbin. Das meint auch Willi Frohwein:Im Haus der Wannseekonferenz weiß ich meinen Bericht in guten Händen. Das Interview mit den MMZ-Mitarbeitern hat der 74jährige auch aus persönlichen Gründen geführt. In seiner Familie war die KZ-Haft lange Zeit kein The­ma.Ich wollte nicht, daß meine Kinder we­gen meiner Vergangenheit auf mich Rück­sicht nehmen. Erst mit Hilfe der Videoauf­

zeichnung konnte er das langjährige Schwei­gen gegenüber seinen Kindern, seiner En­kelin und seinen Geschwistern brechen. Meine Verwandten haben sich die Bänder bis zu viermal angesehen, sagt Frohwein. Seitdem auch seine Familie genauer über seine Vergangenheit Bescheid weiß, sei er ruhiger geworden: ‚Viele sagen, ich kann nicht über die Erfahrungen reden, aber ich sage jetzt, ich muß darüber reden.

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Erinnerungen an KZ-Haft und Verfolgung: Willi Frohwein hat die Tasche seiner Häftlingsklei­dung aus Auschwitz und seineJ-Kennkarte dem Haus der Wannseekonferenz vermacht. In der Gedenkstätte ist auch dasArchiv der Erin­nerung des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums untergebracht. Für die Videodoku­mentation hatte Frohwein mehr als vier Stunden vor der Kamera über sein Leben während der Nazi-Diktatur berichtet. Foto: Tribukeit

INFORMATIONEN ZUR FORSCHUNGSFÖRDERUNG

DFG: Nachwuchsgruppen für die Biowissenschaften

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat ein Programm aufgelegt, das es jährlich drei exzellenten, noch nicht habili­tierten Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern ermögli­chen soll, in einer Forschungseinrichtung eine Nachwuchsgruppe auf der Grundlage einer mittelfristig gesicherten Förderzu­sage im Rahmen der bestehenden Infra­struktur der aufnehmenden Institution auf­zubauen und sich dabei auch zu habilitie­ren. Neben den persönlichen Bezügen als Leiterin oder Leiter der Nachwuchsgruppe (bis BAT-O Ib) können alle für die For­schungsarbeiten notwendigen Mittel bean­tragt werden. Die Förderungsdauer beträgt bis zu fünf Jahre. Der Antrag kann vom An­

tragstellenden selbst, aber zusammen mit der aufnehmenden Forschungseinrichtung gestellt werden. Diese muß in dem Antrag ihre Bereitschaft zur Aufnahme der Nach­wuchsgruppe erklären. Frist für die Kurzbe­werbung: 1. Juni 1997. Ansprechpartnerin bei generellen Fragen zum Programm ist Dr. Ingrid Ehses, Tel. 0228/885-2258.

European Science Foundation: Förderung der Sozialwissenschaften in Europa DasStanding Committee for the Social Sciences(SCSS) derEuropean Science Foundation(ESF) hat ein Programm einge­richtet, um die Entwicklung von sozialwis­senschaftlichen Forschungsaktivitäten auf europäischer Ebene zu fördern, Es soll Fortsetzung nächste Seite

PUTZ 4/97

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