DER NEUE GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
Vor kurzem traf es mal wieder Deutschland. Das Grundgesetz enthält einen umfangreiChen Grundrechtskatalog, in der Politik wird regelmäßig die Bedeutung von Menschenrechten betont— und doch kommt es von Zeit zu Zeit vor, daß der Europäische Gerichtshof ür Menschenrechte in Straßburg auch die Bundesrepublik rügt, wie zuletzt in einem Urteil vom Juli dieses Jahres. Er stellte eine Verletzung der Europäischen Konvention für Menschenrechte und KGrundfreiheiten EMRK) wegen überlanger Verfahrensdauer fest, da das Bundesverfassungsgericht über ünf Jahre auf dem Fall„saß“.
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Futuristisches Ambiente: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg/ Frankreich. Abb. 29.
Allerdings vergingen auch in Straßburg sieben Jahre bis zum endgültigen Urteil. Hierin liegt eines der großen Probleme des an sich sehr effektiven Rechtsschutzsystems der EMRK. Die stetig ansteigende Flut von Beschwerden(1996: 12.143 Anträge) und die gewachsene Anzahl der Mitgliedstaaten des Europarates(1949: 10, 1990: 24, 1997: 40) führten zu einer starken Überlastung der Straßburger Organe, die ohne eine grundlegende Reform nicht mehr zu bewältigen ist. So entstand das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK von 1994, das einen einzigen ständigen Gerichtshof ohne die bisherige Vorarbeit durch die Europäische Kommission für Menschenrechte(siehe dazu auch das nebenstehende Interview) vorsieht. Dieses Reformprotokoll war Thema der nunmehr vierten Tagung des unter der Leitung von Prof. Dr. Eckart Klein stehenden Menschenrechtszentrums der Universität Potsdam, gemeinsam mit dem Generalsekretariat des Europarates im September in Potsdam veranstaltet. Teilnehmer aus 24 Staaten diskutierten Fragen der Funktionsweise des neuen Gerichtshofes, unterbreiteten Vorschläge anhand eigener Erfahrungen aus den Bereichen Justiz, Verwaltung und Politik und erörterten Perspektiven des europäischen Menschenrechtsschutzes durch den neuen Gerichtshof,
Ekkehard Strauß, Heike Stender
„ERHEBLICHE STRAFFUNG DER VERFAHRENSDAUER”“” ERWARTET
Der Präsident der Europäischen Kommission für Menschenrechte im Interview
Ekkehard Strauß und Heike Stender sprachen nach der Tagung des Potsdamer Menschenrechtszentrums für die PUTZ mit Prof. Dr. Stefan Trechsel, dem Präsidenten der Europäischen Kommission für Menschenrechte:
PUTZ: Herr Professor Trechsel, wie ist der aktuelle Stand der Ratifizierung des 11. Zusatzprotokolls? Wann wird es in Kraft treten? Trechsel: Das 11. Zusatzprotokoll wird ungefähr in einem Jahr in Kraft treten. Ungewiß ist eigentlich nur, ob Italien als letztes Land die Ratifikationsurkunde noch im September oder erst im Oktober deponiert. Es wird aber mit Sicherheit damit gerechnet, daß dies spätestens vor dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 9./10. Oktober geschieht(Italien ratifizierte am 1.10.97; d. Red.). PUTZ: Thema dieser Tagung war es zu versuchen, sich über die Fragen zu unterhalten, die in dem 11. Zusatzprotokoll selbst nicht geregelt sind. Wer ist innerhalb des Europarates für diese Fragen zuständig? Trechsel: Eigentlich ist die einzige Instanz, die kompetent ist, die hier aufgeworfenen Fragen zu entscheiden, der neue Cerichtshof. Er verabschiedet selbst eine Verfahrensordnung und muß im Zusammenhang damit die noch offenen Fragen beantworten. Was hier getan wurde, ist eine Hilfestellung, sind Vorbereitungsarbeiten, die dem Gerichtshof dann zur Verfügung stehen sollen. Deshalb meine ich übrigens auch, daß es wichtig ist, die Akten zu publizieren, und zwar bis zum Januar, wenn die Richter gewählt sein sollten, damit der Adressat überhaupt erreicht wird.
PUTZ: Mit der Erarbeitung des 11. Zusatzprotokolls war die Hoffnung verbunden, daß man die Verfahrenszeiten vor den Straßburger Instanzen verkürzen könnte. Glauben Sie, daß dies trotz der neuen Mitgliedstaaten erreicht werden kann? Trechsel: Während die Geschäftslast wohl weiterhin ein großes Problem sein wird, möchte ich darauf hinweisen, daß das neue Verfahrenssystem hinsichtlich der Verfahrensdauer doch eine erhebliche Straffung enthält. Nach dem jetzigen zweiaktigen System wird ein Fall von der Kommission zunächst auf seine Zulässigkeit geprüft, dann gibt es ein Verfahren für gütliche Einigung und das Verfahren in der Sache selbst, bevor die Kommission einen Bericht verabschiedet, der sich wie ein Urteil liest. Die Kommission macht eigentlich schon die Arbeit, die danach der Gerichtshof, der mit einer Frist von drei Monaten nun von der Kommission oder dem betroffenen Staat, in
einigen Fällen auch vom Kläger, angerufen werden kann, noch mal machen wird. Das wird d£hnn wegfallen, und, wie ich meine, ganz entschieden zu einer Verkürzung der Verfahrensdauer führen. Andere Verzögerungen der Verfahren liegen zum Teil bei den Regierungen begründet, es wird regelmäßig um ein, zwei Monate Fristverlängerung nachgesucht. Das wird wohl durch das neue System nicht geändert werden können, es sei denn, der Gerichtshof Schlägt einen ganz anderen Ton an als wir und nimmt sich zum Modell die Interamerikanische Menschenrechtskommission, die offenbar dem Staat eine Frist setzt und sagt:„Wenn wir bis dahin Ihre Stellungnahme nicht haben, dann entscheiden wir aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers.“ Aber es wäre eher überraschend, wenn der neue Gerichtshof diese vielleicht wirksame, aber so kräftige und ein bißchen brutale Haltung einnehmen würde.
PUTZ: Wenn Behörden umstrukturiert und dabei Funktionen zusammengefaßt werden und eventuell Personal freigesetzt wird, kann dies zu ganz erheblichen Widerständen führen. Was wird mit dem Personal der Kommission passieren, und wie steht es dem gegenüber?
Trechsel: Hier kann man getrost sein. Kein Personal wird entlassen wegen dieser Fusion. Der Gerichtshof braucht auch dringend das ganze Sekretariat. Nicht ganz so einfach ist es mit den Mitgliedern des GercChtshofes und der Kommission. Vor allem einige der Herrschaften, die aufgrund der Altersgrenze von 70 Jahren nicht mehr wähl‘bar sind, bedauern, diese Tätigkeit zu verlieren. Es ist verständlich, daß es Widerstand aus solchen Kreisen gegen das 11. Protokoll gegeben hat, und ich muß leider sagen, daß die Kommission, übrigens auch der Gerichtshof, nicht sehr hilfreich waren bei der Ausarbeitung des neuen Modells. PUTZ: Unser Tagungsort Potsdam hat viel zu tun mit der deutschen, aber auch mit der europäischen Teilung. Wie schätzen Sie die Mitarbeit der neuen Konventionsstaaten aus Mittel- und Osteuropa in der Kommission ein, welchen Eindruck haben Sie von dem wiedervereinigten Deutschland? Trechsel: Meine Kollegen aus den ehemals kommunistischen Ländern haben sich ausgezeichnet integniert. Sie sind vielleicht noch etwas schüchterner und zurückhaltender, da manches für sie neu ist und sie im allgemeinen auch die jüngsten Mitglieder sind. Was die Regierungen anbetrifft, so gibt es zum Teil noch Verspätungen bei der Zustellung der Beschwerden und organisatorische>»
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