ALS BRESHNEWS SARG IN DIE GRUBE KRACHTE
Konferenz zum Theater im Spät- und Postsozialismus
Bei der Inszenierung von Bulgakovs Roman„Meister und Margarita“ im Dresdner Schicht-Theater 1989 ließen in der Begräbnisszene für den Journalisten Berlioz die Träger den Sarg aus den Händen gleiten und in die Grube poltern. Das Publikum verstand diese Anspielung sofort und lachte laut: Während der Feierlichkeiten zum Begräbnis des sowjetischen Staatsund Parteichefs Leonid Iljitsch Breshnew im November 1982 war den Trägern nämlich genau diese Peinlichkeit passiert: Sie hatten die Stricke losgelassen.
Auch so konnte die Kommunikation zwischen Theater und Zuschauern unter den Bedingungen einer geschlossenen Gesellschaft funktionieren: Alle wußten, was gemeint war, ohne daß etwas klar gesagt worden wäre. Dieses und andere Beispiele für den Austausch zwischen Bühne und Öffentlichkeit diskutierten Wissenschaftler aus neun Ländern bei einer Konferenz zum Drama und Theater im Spätund Postsozialismus Mitte Oktober an der Universität Potsdam. Für den Berliner Theaterwissenschaftler Jörg Bochow war der polternde Sarg der Anfang vom Ende des „real existierenden Sozialismus“. Andere setzten die Zäsur anders: aus polnischer Perspektive war bereits Anfang der 80er Jahre das vorläufige Ende vom Ende erreicht, vom sozialistischen Kulturmodell habe man sich bereits
”] Lodhe L in _.] Videoteatr„Poza”
Powiesc dla Hollywoodu
SINYCZEN 5 1D 1112 71818
W£g prozy Hanny KRALL
„Roman für Hollywood“ heißt das Stück übersetzt, daß die polnische Theatergruppe Videoteatr„Poza“ in Potsdam zeigte. Hier das Originalplakat zur Aufführung in Warschau. Abb.: Videoteatr„Poza“
in den 60ern verabschiedet. Irgendwo dazwischen sehen die Theater der anderen ehemaligen sozialistischen Länder den Wendepunkt. Das Symposium war zwar von Potsdamer Slavisten organisiert, hatte aber— wie das Beispiel DDR zeigt— nicht nur die slawischen Länder im Blick. Rußland waren vier Beiträge
„CENT SOUCIS VARIES“
gewidmet, der Slowakei zwei, Tschechien ebenfalls zwei, drei beschäftigten sich mit der Theatersituation in den südslawischen Ländern Slowenien, Serbien und Bulgarien, und zwei Vorträge betrafen sorbische Themen. Polnisches Theater wurde bei der Konferenz nicht nur referiert, sondern auch gezeigt: Die Warschauer Experimentierbühne Videoteatr „Poza“ war mit einer Vorstellung ihrer neuesten Inszenierung„PowieSC dla Hollywoodu“ zu Gast, in der die traditionellen Gattungsgrenzen aufgehoben sind und Videoinstallation und Theater eine neue Einheit bilden. Indem sie auf der Bühne in die Kamera spricht und Aufzeichnungen mit ihr gezeigt werden, ist die Schauspielerin Jolanta Lothe Darstellerin, Kommentatorin und Moderatorin in einem, während der Regisseur, Peter Lachmann, für alle sichtbar die Geräte steuert. Ein raffiniertes Spiel mit den Erzählebenen und Rollen. Einen zweiten sehr praktischen Akzent setzte die Begegnung mit dem Intendanten und den Mitarbeitern des Potsdamer Hans Otto Theaters. Auch hier war das ganze Problemspektrum der organisatorischen wie ästhetischen Veränderungen Gegenstand des Gesprächs. Allen Beteiligten war klar, daß in dem viertägigen Symposium das Thema nicht annähernd ausgeschöpft werden konnte. Die Gespräche waren allerdings ein Anfang. Eine Fortsetzung wurde bereits verabredet. Norbert Franz
„Groupe de Theätre Francais” besteht seit sechs Monaten
Daß Studierende Theater spielen, soll häufiger vorkommen. Daß sie ihr erstes Stück selbst schreiben, dürfte schon seltener sein. Und daß sie es in mehreren Fremdsprachen schreiben und aufführen, ist eine Rarität. Vor allem aber war die Aufführung der gerade einmal seit einem halben Jahr bestehenden Theatergruppe„Groupe de Theätre Francais“ der Universität Potsdam im Rahmen des 2. Romanistischen Tages ein beeindruckender Erfolg.
„Cent Soucis Varies“(etwa zu übersetzen mit: Hundert verschiedene Ärgernisse) heißt das Stück. Es beschreibt in lockerer Szenenfolge Variationen eines Abenteuers im Park von Sanssouci. Zunächst tritt einer der AkteuTe vor die Zuschauer, um im Plauderton einige Hinweise zu dem nun folgenden Stück zu geben: Man habe sich von Raimond | Queneau anregen lassen,„ich buchstabiere Q-U-E-N...„, doch schnell wird er von seinen | Mitspielern am Weiterreden gehindert: Denn man wolle nun endlich anfangen.
| Und man fängt an, in französischer Sprache.
Berichtet wird von einer Golmer Studentin, die mit dem Fahrrad durch den Park Sanssouci fährt und dabei von einem Parkwächter ertappt und gestellt wird. Diesem fettleibigen, bärtigen Widerling mit seinem knurrenden Köter kann sie nur entfliehen, weil der Wächter von einem aufdringlich grinsenden japanischen Touristen abgelenkt wird, der um ein Foto vor dem Teehaus bittet. Diese Episode nun wird in sechzehn szenischen Variationen vorgestellt. Einmal in einer Sprachenkette: Im Cafe wird die Geschichte von Tisch zu Tisch in allen möglichen romanischen und slavischen Sprachen und einer der jeweiligen Kultur entsprechenden Mimik und Gestik weitererzählt; wobei die Ereignisse nach dem Prinzip„stille Post, immer wieder anders dargestellt werden.
Es folgt eine hinreißende Solodarstellung von Matthias Damberg als Pantomime, in der die Charaktere der Personen mit Hilfe von Musikauszügen und zudem in ansteigendem Tempo beschrieben werden. Eine andere Variation zeigt eine politische Wahlveranstaltung, in der ein Politiker die Verro
hung der Sitten im Park beklagt und fordert, den Studenten den Zutritt zu verbieten. Weiere Abwandlungen schließen sich an, bis in der Schlußszene eine Großmutter ihren vier Enkeln die Geschichte von der armen Prinzessin im Park vorliest, die von einem tapferen Ritter aus dem fernen Osten vor einem schrecklichen Ungeheuer errettet wird. Jetzt ist aus der Episode ein Märchen geworden, das die Kinder in den Schlaf wiegt.
Das begeisterte Publikum feierte das Ensemble mit heftigem Applaus. Die Mitglieder der Gruppe(Sylvie Danjou, Nicole Bucher, Matthias Damberg, Katia Deyrieux, Mariano Pineiro y Neubeck und Fabian Waldmann) erklärten, von Raymond Queneaus„Exercises de Style“ inspiriert worden zu sein, die in einem Seminar über„Stimme und Expression, von Sylvie Danjou gelesen wurden. Nach der Uraufführung im Rahmen des Romanistenfestes im Juni habe man es nochmals überarbeitet. Zur nächsten Aufführung wird man etwas weiter fahren müssen: Romanisten der Humboldt-Universität zu Berlin haben die Gruppe eingeladen. abu
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