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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Lernbehinderte in Frankreich ­

Zu Stand und Entwicklungstendenzen der französischen Sondererziehung und

Integrationsbemühung Von Ulrich Schröder

Die historische Entwicklung, der gegenwärtige Stand sowie Bemühungen um eine Korrektur von Fehlent­wicklungen und um Verstärkung integrativer Maßnah­men werden dargestellt und diskutiert, und zwar stets aus lernbehindertenpädagogischer Sicht. Insbesondere werden nach verschiedenen Kriterien die Populationen der französischen Sonderklassen und der deutschen Schulen für Lernbehinderte verglichen. Schließlich wer­den einige spezifische pädagogische Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Integration analysiert.

The article describes and discusses the history and the actual situation of special education in France and the efforts to reduce some unfavourable outcomes and to promote integration into the regular educational and instructional system. AIlI this is done from the point of view of the education of students named ‚lernbehin­dert, ‚ESN, ‚EMR or ‚debiles mentaux; in particular, a comparative analysis of the so called populations of students in France and in the F.R.G. is undertaken.

Vorbemerkung

Der Text beruht in wesentlichen Teilen auf Informationen und Erfahrungen ei­ner Forschungsreise nach Frankreich im Jahre 1984, die von der Deutschen For­schungsgemeinschaft finanziell unter­stützt wurde, sowie auf Gesetzes- und Erlaßtexten und der Wiedergabe und Bearbeitung von Daten des staatlichen Statistikamtes; bei allen drei Quellen wird auf bibliographische Nachweise im einzelnen verzichtet.

Einleitung

In der ersten Phase der Geschichte der Hilfsschule kam es oft zu Besuchen die­ser neuartigen Einrichtungen, nicht nur durch Vertreter deutscher Städte, die ebenfalls die Errichtung einer solchen Hilfsschule erwogen und nach Vorbil­

dern und deren Erfahrungen fragten,

sondern auch in beträchtlichem Ausmaß durch ausländische Schul- und Regie­rungsvertreter. So verzeichnet die Chro­nik der Kölner Hilfsschule in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens Besuche aus Basel, Philadelphia, London, Kopenha­gen, Rotterdam, Wien, Amsterdam, Genf, Brüssel, Paris, Oslo, Budapest, Helsingborg, den Haag, Petersburg und Tokio.

Damals also, in den 80er und 90er Jahren des 19. Jh., geschieht bereits, ohne daß es den Begriff überhaupt gegeben hätte, Vergleichende Sonderpädagogik. Ging bei den damaligen internationalen Kontakten die Besuchsrichtung aus dem Ausland nach Deutschland hin, so hat sie sich heute weitgehend umgekehrt, und statt der Besuche sonderpädagogi­scher Einrichtungen, die als vorbildlich gelten, stehen eher Bemühungen im Blickpunkt des Interesses, auf solche se­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987

paraten Institutionen zu verzichten. Geblieben ist indessen, daß die Reisen­den meist mit relativ eng umschriebenen Interessen unterwegs sind, daß die Aus­wahl der Vergleichsobjekte und-orte von diesen Interessen- sei es an Hilfs­schulen, sei es an Integrationsmodellen - gelenkt ist. Wer sich etwa mit Italien befaßt, hat dieses Land in erster Linie ausgewählt, weil es sich entschieden hat, die behinderten Schüler in ‚normale Klassen aufzunehmen. Dies ist sicher ein selektives Vorgehen, und es wird noch verstärkt dadurch, daß das Beobachtete wiederum Ergebnis sehr selektiven Beobachtens- z. B. im Schul­wesen Italiens- ist.

Unter dem methodischen Aspekt der Vergleichenden Sonderpädagogik sind diese doppelte Selektivität und die da­hinterstehende, überwiegend nicht kon­trollierte Interessengeleitetheit nicht un­bedenklich. Und ein Blick auf den ak­

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