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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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bemühung

tuellen Diskussionsstand der Verglei­chenden Sonderpädagogik in der Bun­desrepublik Deutschland bestätigt die Bedenken: So kann- um erneut Italien als Beispiel zu nehmen- die Einschät­zung von blinder Begeisterung bis zu der Warnung vor deritalienischen Seuche gehen, weil die Befürworter die Nachtei­le und bisherigen Unzulänglichkeiten nicht sehen(wollen), während die Kriti­ker nur darauf starren. Außerdem sind einige Länder der Vergleichenden Son­derpädagogik bisher fast ganz entgan­gen, sie sind sozusagen dem oben er­wähnten Auswahlprinzip zum Opfer ge­fallen: Frankreich zählt sicher dazu.

In der Tat ist Frankreich bisher nicht mit spektakulären Integrationsmaßnahmen hervorgetreten. Am meisten ist aus sei­ner Schulpädagogik die Arbeit nach Freinet bei uns bekanntgeworden, und es ist auch beachtet worden, daß viele französische Sonderklassen und Sonder­schulen nach Freinets Prinzipien den Unterricht gestalten.

Meine Fragestellung ist dagegen in ge­wisser Hinsicht allgemeiner, in anderem aber auch spezieller: Einerseits erfolgt keine Beschränkung auf den Gesichts­punkt der Integration; vielmehr wird allgemein davon ausgegangen, daß be­sondere pädagogische Bedürfnisse in je­der institutionalisierten Form des Ler­nens- wie der Schule- auftreten wer­den, und gefragt, wie die institutionellen und schulpädagogischen Strukturen auf diese besonderen Bedürfnisse antwor­ten. Dabei freilich verdienen integrative, nicht separierende Maßnahmen beson­dere Beachtung. Andererseits liegt eine Spezialisierung darin, daß der Blick auf die Personengruppe konzentriert wird, die in der BundesrepublikLernbehin­derte heißt.

Vor allem die Frage nach der Schüler­gruppe im französischen Schulwesen, die unseren Lernbehinderten in etwa korrespondiert, erfordert methodische Aufmerksamkeit und einiges vorsichtige Abwägen: Allzuoft finden sich vor­schnelle Übertragungen fremdsprachi­ger Bezeichnungen ins Deutsche, so et­wa immer wieder die Übersetzung des amerikanischenlearning disabilities

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mitLernbehinderung, obwohl damit in den USA in der Regel recht spezifi­sche Lernbeeinträchtigungen gemeint sind.

Entwicklung und Stand der Sondererziehung in Frankreich

Frankreich hat relativ spät die allgemei­ne Schulpflicht eingeführt und durchge­setzt: Erst 1882 schreibt ein Gesetz den Schulbesuch vom 6. bis zum 12. Lebens­jahr vor. Da Frankreich nicht nur in der kulturellen, sondern lange Zeit auch in der technisch-industriellen Entwicklung gegenüber Deutschland eher einen Vor­sprung hatte, überrascht der Rückstand in der schulischen Entwicklung, die sich ansonsten in der Regel als abhängig von den erstgenannten Aspekten zeigt.

In Deutschland hatte sich einige Jahr­zehnte nach Durchsetzung der Schul­pflicht herausgestellt, daß ein gewisser Teil der nun die Schule besuchenden Kinder aus dem Unterricht keinen Ge­winn ziehen konnte und infolge des Ver­sagens in den unteren Klassen zurück­blieb- z.T. saßen Vierzehnjährige in den Anfangsklassen-, so daß für sie Hilfsklassen und Hilfsschulen in ver­stärktem Ausmaß eingerichtet wurden. Ganz entsprechend, jedoch um minde­stens 20 Jahre später, begann man in Frankreich um die Jahrhundertwende, also ebenfalls zwei bis drei Jahrzehnte nach Durchsetzung der Schulpflicht, be­sondere Einrichtungen für die zurückge­bliebenen, schwachen Schüler zu pla­nen, und erließ 1909 ein Gesetz, in dem Sonderklassen konstituiert wurden, So­genannteclasses de perfectionnement - wörtlich übersetztKlassen zur Ver­vollkommnung, zur Fortbildung. Dies ist eine ähnlich optimistische, aber auch das Gemeinte verschleiernde Bezeich­nung wie der alte deutsche Begriff Hilfsschule; beide Einrichtungen zie­len nämlich auf- wie sie meinen ­Schwachsinnige bzw.geistig Zurück­gebliebene-arrieres- odergeistig Schwache-debiles- ab(siehe zu der folgenden Darstellung die Abb. 1).

Ulrich Schröder:Lernbehinderte in Frankreich- Zu Stand und Entwicklungstendenzen der französischen Sondererziehung und Integrations­

Dieclasses de perfectionnement sind überwiegend einer allgemeinen Schule angegliedert, doch waren von Anfang an auch selbständige Klassen und autono­me Schulen dieser Art vorgesehen. Die Zahl der Gründungen blieb lange Zeit sehr klein, erst in den 30er Jahren unter der Volksfrontregierung und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg erlangten sie eine weitere Verbreitung, nie jedoch eine, die mit derjenigen der deutschen Hilfsschulen vergleichbar wäre.

Als die Schulpflicht- zuletzt 1959 bis zum 16. Lebensjahr- verlängert wurde, blieben die classes de perfectionnement davon unberührt, so daß sie sich- mit Ausnahme der selbständigen Schulen ­im wesentlichen auf die Primarstufe be­schränkten. Daher wurde es in den 60er Jahren notwendig, im Anschluß daran, d.h. für die Sekundarstufe, eine neue sonderpädagogische Einrichtung ins Le­ben zu rufen, diesections deducation specialisee, abgekürzt S.E.S. Diese Abteilungen für Sondererziehung- so ist der französische Titel zu übersetzen ­sind stets Annexe der 1959 mit der Ver­längerung der Schulpflicht neukonzi­pierten Sekundarschule, des sogenann­tenKollegs für Sekundarunterricht (C.E.S.). Auf sie werden wir später nä­her eingehen, daher werden sie an dieser Stelle nur erwähnt als Teil der sonder­pädagogischen Bildungsinstitutionen. Neben den beiden erwähnten, zahlen­mäßig bedeutendsten sonderpädagogi­schen Einrichtungen unter der Ägide des Erziehungsministeriums, den Son­derklassen bzw.-schulende perfection­nement und den Abteilungen an Se­kundarstufenkollegs, den S. E. S., gibt es - mit z. T. erheblich längerer Tradition ­Einrichtungen für Sinnesgeschädigte, Körperbehinderte und Verhaltensge­störte sowie für Geistigbehinderte, für die auch- und sogar überwiegend- zwei weitere Ministerien zuständig sind, das Gesundheits- und das Sozialministe­rium: 62% der Seh- und 81% der Hörge­schädigten befinden sich in denEtablis­sements medico-educatifs, ebenso 55% der Bewegungsbeeinträchtigten, 69% der schwer Mehrfachbehinderten, 93% bzw. 68% dergeistig Geschädigten

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987

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