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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Ulrich Schröder:Lernbehinderte in Frankreich- Zu Stand und Entwicklungstendenzen der französischen Sondererziehung und Integrations­

bemühung

tion, wohl angeregt durch Konzepte wie adaptive teaching, in der Sonderpäd­agogik zu propagieren. Die Schülerzahl der82E. R. E. A. liegt 1985/86 bei 12 000, von denen die Jungen drei Viertel aus­machen. Der Anteil der Ausländer, in der Hauptsache Nordafrikaner und Por­tugiesen, beträgt 11% bei einer Spann­weite von Null bis zu über einem Drittel im Bereich der PariserAkademie; er liegt aber deutlich unter demjenigen der S.E.S.(siehe dazuBemühungen um Vermeidung oder Verminderung von Separierung im_Sonderunterricht). Prinzipiell waren die E.N. P. für die ge­samte Schulpflichtzeit konzipiert, doch hat sich ihr Schwerpunkt immer mehr in Richtung Sekundarstufe und insbeson­dere auf vorberufliche und berufliche Bildung verlagert, so daß heute(1985/ 86) nur noch 3,3% der Schüler sich auf der Primarstufe befinden.

80% der Schüler der E.R.E. A. werden als debil- leichten oder mittleren Gra­des- klassifiziert. Wenden wir uns wie­der der Gesamtheit der sonderpädagogi­schen Institutionen des Erziehungsmi­nisteriums zu, so ist gar von über 90% intellektuell Beeinträchtigten die Rede. Diese intellektuelle Beeinträchtigung, deficience mentale oderintellectuel­le, wird durch IQ-Daten definiert, und zwar durch den IQ-Bereich 50- 80; dabei gilt 65- 80 als leichte, 50- 65 als mittlere Defizienz.

Nun erinnern diese IQ-Bereichsangaben sehr an einige Definitionen von Lernbe­hinderung in der Bundesrepublik, und es liegt nahe, sogleich in der Gruppe der leicht bis mittelgradig intellektuell Beeinträchtigten das französische Pen­dant zur Schülerschaft unserer Lernbe­hindertenschule zu sehen. Doch so sehr kann man solchen psychometrischen Daten nicht vertrauen, vor allem gibt es wohl kaum noch Vertreter der Lernbe­hindertenpädagogik, die sich eine Be­stimmung ihrer Zielgruppe so einfach vorstellen. Daher ist eine eingehendere Betrachtung der Frage nach den dem Personenkreis der Lernbehinderten ent­sprechenden Schülerinnen und Schü­lern nötig.

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Die Frage nach denLernbe­hinderten in Frankreich und ihrer schulischen Förderung

Bevor ich mich der Erörterung der Frage nach denLernbehinderten in Frank­reich zuwende, sei kurz darauf einge­gangen, daß diese Frage neben theoreti­scher Bedeutung für die Vergleichende Sonderpädagogik auch praktische Rele­vanz beanspruchen kann:

Allgemein gilt sicher, daß Strukturen, d.h. Fördereinrichtungen, Sonderschu­len und-klassen, nur verglichen werden können, wenn sie vergleichbare Aufga­ben der Erziehung bewältigen, d. h. auch vergleichbaren Personengruppen helfen sollen. Wenn nun ausländische Modelle wie z.B. die Basler Kleinklassen in der Bundesrepublik Deutschland als Vor­bild gelten sollen, muß man wissen, daß es sich bei den Schülern dieser Klassen nicht um eine den Lernbehinderten im ganzen entsprechende Schülerpopula­tion handeln kann, da für die Kinder mit einem IQ unter 75 in der Schweiz die In­validenversicherung zuständig ist. Das Basler Modell betrifft daher nur einen Teil der Lernbehindertenpopulation, in der Hauptsache wohl die(bei uns) soge­nanntengeneralisiert Lerngestörten (vgl. Kanter 1977), während die meisten unsererLernbehinderten mit deutli­chen Intelligenzrückständen sich in den Kleinklassen A und C nicht finden wer­den.

Die Beantwortung der Frage nach den Lernbehinderten in einem Schulbil­dungssystem wie dem Frankreichs hat eine doppelte Schwierigkeit zu überwin­den, die über die übliche methodische Problematik Vergleichender Sonderpäd­agogik hinausgeht: Erstens ist Lernbe­hinderung diejenige Behinderungsform, die wohl die größten Schwierigkeiten beim internationalen Vergleich bereitet, da nicht wie bei den organisch bestimm­baren Behinderungsformen wie Körper­behinderung oder Sinnesschädigungen ein Kriterium zur Verfügung steht, das relativ unabhängig von Charakteristika des Schulsystems und den kulturellen Leistungserwartungen und-toleranzen

wäre. International Vergleichende Son­derpädagogik ist also bei fast allen ande­ren Behinderungsformen weitaus leich­ter durchzuführen als bei Lernbehinde­rung. Und zweitens bietet Frankreich dem Vergleich besondere Schwierigkei­ten wegen der Zuständigkeitsvielfalt im Bereich der pädagogischen Förderung Behinderter: Zu der Aufspaltung in pri­vate und öffentliche Schulen kommt die Aufteilung der Zuständigkeit auf drei Ministerien- und erst in den letzten Jah­ren haben wenigstens das Erziehungs­und Sozialministerium mit einer ver­nünftigen inhaltlichen Kooperation be­gonnen.

Dabei scheinen die Dinge in Frankreich auf den ersten Blick ja eher einfach zu liegen: Gehen wir nämlich von der offi­ziellen Bestimmung aus, daß dieclasses de perfectionnement, dieEcoles natio­nales de perfectionnement und die S.E.S. die(leicht bis mittelgradig) int­ellektuell Beeinträchtigten oder Debilen zu beschulen haben, so ist nach diesen amtlichen Vorgaben, wie gesagt, mit der Schülerpopulation der IQ-Werte 50- 80 zu rechnen.

Ein Erlaß des Erziehungsministers von 1965, der die Entwicklung der folgenden Jahre lenken sollte, bestätigte nicht nur die Intelligenzrichtwerte, sondern gab dazu Schätzwerte des prozentualen An­teils der Debilen an der altersgleichen Bevölkerung:

Leicht Debile(IQ 65- 80) 3,00% Leicht Debile mit zusätzlichen 0,30% Störungen Mittelgradig Debile (IQ 50- 65)

Die angegebenen Prozentsätze ergeben eine Summe von 3,65% der Kinder oder Jugendlichen eines Geburtsjahrganges, die zu den Debilen oder intellektuell De­fizienten zu rechnen wären. Teststatis­tisch jedoch müßten die angegebenen IQ-Bereiche insgesamt einem Anteil an der jeweiligen Altersgruppe von über 9% entsprechen, mehr als dem Doppelten des Schätzwertes und des Anteils der Kinder, die tatsächlich Sonderunterricht erhielten oder heute erhalten.

Ein ähnlicher Widerspruch steckte auch in der Festlegung des Deutschen Bil­

0,35%

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987