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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Ulrich Schröder:Lernbehinderte in Frankreich- Zu Stand und Entwicklungstendenzen der französischen Sondererziehung und Integrations­

bemühung

dungsrates, der in seinenEmpfehlun­gen zur pädagogischen Förderung be­hinderter und von Behinderung bedroh­ter Kinder und Jugendlicher einerseits den Anteil der Lernbehinderten auf 2,5% senken wollte, andererseits aber ei­ne IQ-Spanne von 55- 85 für Lernbehin­derte angab, also einen den französi­schen Bestimmungen recht ähnlichen Bereich, der sogar über 15% ausmachen würde.

Jedoch: Der Bildungsrat gibt zwar im Text das Schulversagen als das gegen­über der Intelligenzminderleistung se­kundäre Merkmal aus, doch faktisch erfolgt eine Bestimmung immer umge­kehrt(und im Grunde dreht der Text auch seinen impliziten Gedankengang herum): Das erste Kriterium für Lernbe­hinderung ist das Scheitern des Kindes an den schulischen Lernanforderungen, und erst im zweiten Schritt wird geprüft, ob es sich bei diesem Scheitern um ein noch in derNormal-Schule tolerierba­res oder um einsonderschulbedürf­tiges Schulversagen handelt. Anders gesagt: Der Bildungsrat denkt nicht etwa daran, daß alle Kinder mit IQ 55- 85 lernbehindert seien, sondern er behaup­tet nur, daß aus der Menge der erheblich Schulleistungsschwachen diejenigen mit so definierter Intelligenzminderung als Lernbehinderte in Frage kommen. Das auch in Frankreich das Schulversa­gen das Eingangskriterium darstellt, ist daran abzulesen, daß die entsprechen­den Schüler relativ spät in dieclasses de perfectionnement überwiesen werden, überwiegend erst, nachdem sie bereits zwei Jahre Rückstand in der Primarschu­le erlitten haben. Daher ist nur etwa je­der siebte Schüler dort jünger als 9 Jahre. Offenbar wird abgewartet, bis das Ein­gangskriteriumerhebliches Schulversa­gen erfüllt ist.

Der schulische Rückstand von zwei Jah­ren erscheint aus deutscher Sicht als ein seltsam bekanntes Datum: Seit den Ta­gen der ersten Hilfsschulgründungen wird er als Bedingung für Meldung oder/ und Aufnahme in Hilfsschulen bzw. Lernbehindertenschulen gehandelt, und selbst heute, da er z.B. in den Ländern Nordrhein-Westfalen seit 1973 und Nie­

dersachsen seit 1977 in den Überwei­sungsregelungen ausdrücklich nicht mehr genannt wird, kann er als heimli­ches Meldekriterium der Grundschulen bezeichnet werden.

Nun ist Schulversagen aber noch mehr als Lernbehinderung abhängig von den Gegebenheiten, den Anforderungen und Hilfen der allgemeinen Schulen. Daher muß das Ausmaß des schulischen Scheiterns in Frankreich in unsere Über­legungen mit einbezogen werden. Aufgrund von Erhebungen und Schät­zungen kann man sagen, daß in Frank­reich das Schulversagen ein erschrek­kend hohes Ausmaß erreicht: Über 10% der Schüler bleiben schon in der 1. Klas­se der Primarschule sitzen, und nach ver­schiedenen Schätzungen erreichen höchstens 50- 60% der Kinder das Ende der Primarschule regulär, ohne Verzöge­rung. Dabei ist das Ausmaß schulischen Mißerfolgs- natürlich, möchte man fast sagen- einem deutlichen sozio-kulturel­len Determinismus unterworfen. Insge­samt bestätigen alle Daten das Bild, das von der französischen Schule besteht: nämlich das einer sehr fordernden, lei­stungsorientierten Schule(Guyot 1983, Paris 1984, Zucman 1983).

Betrachten wir die Lage bezüglich der Primarstufe im Vergleich von Bundesre­publik Deutschland und Frankreich ­und zwar ausgehend von dem vorhin er­läuterten Denkmodell, daß dieLernbe­hinderten eine spezifizierte Teilmenge der Menge der Schulversager darstellen -, So ist festzuhalten: Einerseits gibt es in Frankreich eine viel größere Grundmen­ge an Schulversagern, an Schülern also, denen die Schule ein Scheitern an den Regelanforderungen bezüglich Lernni­veau und Lernzeit bescheinigt, anderer­seits ist der Anteil der daraus für Son­derunterricht selegierten Schüler im Pri­marbereich geringer als bei uns. Das zieht zwei Fragen nach sich:

1.) Das VerhältnisSchulversager: Son­derschüler, das z. B. nach den Angaben des Bildungsrates über Lernbehinde­rung, Lernschwächen,-störungen und zeitlich begrenzte Lernschwierigkeiten für die Bundesrepublik auf etwa 6:1 (Summe der drei angegebenen Prozent­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987

sätze in Relation zu den 2,5% Lernbe­hinderten) geschätzt werden müßte (Deutscher Bildungsrat 1974, 38), liegt in Frankreich wahrscheinlich doppelt so hoch. Das setzt eigentlich schärfere Maßstäbe und strengere Kriterien für die Selektion der Sonderschüler voraus. Angesichts der vorhin genannten IQ-Be­reiche sind daran aber erhebliche Zwei­fel angebracht. Wenn nun aber das offi­zielle Auswahlmerkmal der intellektuel­len Defizienz die in der oben angegebe­nen Relation implizierte Selektion nicht zu erklären vermag, muß es andere Kri­terien, nicht-offizielle, nicht-explizite Kriterien geben, die hier wirksam wer­den. Diese aufzuspüren, wird sehr schwer sein, es sei denn, man begnügt sich mit der zweifellos(fast immer) rich­tigen, aber zumindest viel zu groben Vermutung, gesellschaftliche Determi­nanten seien am Werk.

2.) Offenbar werden in Frankreich rela­tiv weit mehr Schulversager als in der Bundesrepublik weiterhin in der allge­meinen Primarschule unterrichtet und nicht schon separiert in Sonderklassen oder-schulen. Ist dies ein integrativer Zug des französischen Schulwesens? Drückt sich darin eine größere Toleranz gegenüber abweichendem Lernverhal­ten aus und die Bereitschaft und Fähig­keit zur Förderung schwacher Schüler im Rahmen der normalen Klassen? Zwar gibt es in Frankreich mit den G. A. P. P. und den sogenanntenAdap­tationsklassen(siehe hierzuBemü­hungen um Vermeidung oder Vermin­derung von Separierung im Sonderun­terricht) Institutionen, die in nicht-se­parierender Form in frühen Stadien von Schulschwierigkeiten helfend und för­dernd tätig werden, doch drängen sich weniger optimistische Antworten auf die obige Frage auf, wenn man den Über­gang von der Primar- auf die Sekundar­stufe ins Auge faßt:

Zwar sind soziale und persönlichkeitsbe­zogene Aspekte- insbesondere solche, die die Emotionalität und das Selbst­wertgefühl betreffen- nur schwer zu beurteilen, zu dem Aspekt der schuli­schen Förderung liegen jedoch einige harte Daten vor: Bei den Neuaufnah­

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