Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
136
Einzelbild herunterladen

bemühung

men in die S.E.S., die Abteilungen für Sonderunterricht auf der Sekundarstu­fe I, stieg in den letzten Jahren der Anteil der Kinder, die aus der Primarschule und nicht aus Sonderklassen kommen, dra­matisch an. 1985/86 hat er mit 51% den­jenigen der Kinder aus Sonderklassen und-schulen überflügelt; Ende der 70er Jahre machte er nur ein Viertel aus. Be­sonders stark stieg der Prozentsatz der Absolventen des 5. Schuljahres, des C.M. 2: Kam 1977/78 jeder neunte Neuanfänger der S.E.S. aus der Ab­schlußklasse der Primarschule, so ist es seit Beginn der 80er Jahre- mit geringen Schwankungen nach oben oder unten ­jeder vierte. Damit hängt zusammen, daß der Anteil der S.E.S. an der Ge­samtschülerschaft vergleichbaren Alters weit höher ist als der der Sonderklassen auf der Primarstufe. Man kann sich der Schlußfolgerung nicht entziehen, daß die Ausgliederung aus derNormal­schule in einem bedeutenden Ausmaße auf die Zeit des Sekundarunterrichtes hinausgezögert, dann aber unvermin­dert vollzogen wird.

Auch dieses Ergebnis der vergleichen­den Analyse spricht nicht dafür, daß die intellektuelle Defizienz erstes Krite­rium für die Zuweisung zum Sonderun­terricht ist. Vielmehr wird bei der Hälfte der zukünftigen S. E. S.-Schüler die De­bilität als Kriterium erst herbeigezogen, wenn die Ausweglosigkeit des jahrelang mitgeschleppten Schulversagens am En­de der Primarschule eine Lösung er­zwingt. Dann jedoch wird fast 100% der für die S. E. S. vorgesehenen Schülerin­nen und Schüler das Merkmalleichte Debilität zuerkannt.

Aber wie präzise ist eigentlich das Merk­malDebilität bzw.intellektuelle Defi­zienz festgelegt? Es geht bei dieser Fra­ge nicht einmal um die üblicherweise mit der Intelligenzdiagnostik verbunde­ne Problematik, sondern schlicht um die Eindeutigkeit der Bestimmung. Neben dem heute überwiegend genannten IQ­Bereich 50- 80 gibt es jedoch eine Erlaß­regelung von 1964 mit der Angabe 50 ­75, die Meinung des einflußreichen Re­ne Zazzo mit 50- 70(Zazzo 1965) und schließlich den Erlaß, der die S. E. S. ein­

136

richtete für leicht Intelligenzschwache, d.h. für den Bereich 65- 80. Zwischen den IQ-Bereichen vonclasses de perfec­tionnement und S.E.S. gibt es dem­nach nur eine recht schmale Überschnei­dungszone, obwohl doch die S. E. S. die Nachfolgeinstitution derclasses de per­fectionnement für das Sekundarstufen­alter sein sollte.

Erinnern wir uns angesichts dieser schwankenden Grenzziehungen der Debilität daran, daß auch das Sonder­schulaufnahmeverfahren(SAV) in Nordrhein-Westfalen mit der Angabe der Obergrenzeanderthalb bis zwei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes beiLernbehinderten mit deutlichen Intelligenzrückständen mehr ein breites Übergangsband als eine scharfe Linie zieht; jedoch geschieht dies im SAV bewußt und unter Berück­sichtigung der Diskussion um die Zu­sammenhänge von schulischer und in­tellektueller Minderleistung.

Eine solche Diskussion wird freilich auch in Frankreich seit Jahren geführt. Einige seit längerem bekannte Fakten mußten Zweifel an der Festlegung auf deficience intellectuelle aufkommen lassen:

1. die schon erwähnte späte Überwei­sung auf Sonderklassen, die mittels des Intelligenzkonzeptes nicht erklärt wer­den kann;

2. die unterschiedlichen Intelligenz­Durchschnittswerte von Jungen und Mädchen und insbesondere

3. die Tatsache, daß man inclasses de perfectionnement mehr als 10% Schü­ler mit einem IQ über 80 fand(weit weni­ger freilich als in den deutschen Lernbe­hindertenschulen!), Schüler also, die per definitionem nicht in die Rubrikdebil fallen(Gilly 1969, 239 ff.).

Die Heterogenität der Schülerschaft wird in Frankreich ebenso beklagt, wie wir dies in der Bundesrepublik gewohnt sind. Auch ein Blick auf die Geschichte der Bezeichnungen für die gemeinten Schüler der Sonderklassen läßt zeitge­bundene Tendenzen, aber ebenso auch Unsicherheit in der Festlegung erken­nen:

1909 wurde der Begriffarriere,zu­

Ulrich Schröder:Lernbehinderte in Frankreich- Zu Stand und Entwicklungstendenzen der französischen Sondererziehung und Integrations­

rückgeblieben, verwendet, eine Be­zeichnung, die einerseits offen, d.h. nicht auf intellektuelle Fähigkeiten be­grenzt, und optimistisch im Hinblick auf ein Aufholen des Rückstandes klingt, andererseits jedoch im Grunde nur die geistig Schwachen meint. Die weitere Entwicklung der Begrifflichkeit verläuft gespalten: Zum einen wird die Schüler­schaft derclasses de perfectionnement und später die der S. E. S. spezifiziert auf Debilität bzw.deficience intellectuel­le, es wird also ein psychologisch-psy­chiatrischer Sprachgebrauch eingeführt, zum anderen setzt sich als Oberbegriff Inadaptationen, d.h. mangelnde An­passung oder Entsprechung(nämlich: im Verhältnis zu schulischen Anforde­rungen), durch, ein Begriff, der wiede­rum auch erlaubt einzubeziehen, daß sich nicht nur das Kind an die Schule, sondern auch die Schule an das Kind an­zupassen habe; die neue Bezeichnung der Heimsonderschule E. N. P., nämlich Einrichtung für adaptierten Unterricht (siehe hierzuEntwicklung und Stand der Sondererziehung in Frankreich), drückt genau das aus(wenngleich zu fra­gen ist, ob nicht jeder Unterricht in die­sem Sinneangepaßt sein müßte...). Ei­ne aus dem Adaptationsbegriff abgelei­tete Bezeichnung der Kinder alsen­fants inadaptes, alsunangepaßte Kin­der also, fällt jedoch alsbald wieder in die einseitige Sehweise zurück; deshalb propagiert das Erziehungsministerium auch den Ausdruckenfant en difficul­te,Kind in Schwierigkeiten- einen Ausdruck, der ganz entsprechend auch in Italien gern benutzt wird-, und nimmt den Verzicht darauf, die Ursa­che(n) der Schwierigkeiten anzuspre­chen, sowie die Vagheit der Formulie­rung in Kauf(aus dem gleichen Hause stammt freilich eine Dienstanweisung von 1982, in der mit Bezug auf diesen Begriff die bedenkliche Entwicklung der S.E.S. beklagt wird).

Der Lernbehindertenpädagoge auf sei­ner Suche nach dem Vergleichbaren kann freilich bei der Vagheit nicht ste­henbleiben, wenn er auch Exaktheit bei weitem nicht erwarten wird- schon weil Lernbehinderung in der Bundesrepublik

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987