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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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bemühung

tion. So bietet die regionale Verteilung weniger einen klaren Hinweis auf be­stimmte Auswahlmechanismen als viel­mehr eine weitere Einschränkung der Bedeutung des offiziellen Indikators intellektuelle Defizienz.

Nimmt man die Ergebnisse der verschie­denen Analysen zusammen, so kann ne­ben Hinweisen auf die Personengrup­pe, die in Frankreich unseren Lernbe­hinderten entspricht, auch die Einsicht gewonnen werden, daß sich manche Aussagen über die Lernbehinderten in der Bundesrepublik infolge des Verglei­ches in anderem Lichte zeigen, als wenn man unser Schulbildungs- und Gesell­schaftssystem isoliert betrachtet: Man­ches relativiert sich vielleicht, anderes wird bekräftigt als offenbar nicht von un­seren spezifischen Bedingungen abhän­gig. Hierauf kann ich freilich an dieser Stelle nicht weiter eingehen.

Und was die Frage derLernbehinder­ten in Frankreich angeht, so finden sich erstaunlich viele Parallelen in den Pro­blemen einer Schülerpopulation, die hinter den Leistungserwartungen der Schule in so erheblichem Ausmaße zu­rückbleibt, daß diese allgemeine Schule erklärt, sie mit ihren Mitteln nicht mehr fördern zu können; es bleiben aber auch sowohl bei der Schülerschaft derclasses de perfectionnement als auch bei derje­nigen der S.E.S. Einschränkungen und Vorbehalte zu berücksichtigen, die u. a. einerseits in der geringeren Verbreitung der additiven Sonderklassen, anderer­seits in der spezifischen Lerngenese und Schullaufbahn der S.E.S.-Schüler und -Schülerinnen und insgesamt in deren Geschichte und der Verankerung in der Kultur des Landes begründet sind.

Bemühungen um Vermeidung oder Verminderung von Sepa­rierung im Sonderunterricht

Wie in vielen anderen Ländern, so be­stimmt auch in Frankreich die Frage der Integration die sonderpädagogische Dis­kussion der letzten Jahre. Zudem wurde

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mit dem Regierungswechsel 1981 ein starkes Bewußtsein vorherrschend, an der gesamten Schulpolitik bzw. der schulischen Realität Entscheidendes än­dern zu sollen. Schließlich machten sich Befürchtungen geltend, in der interna­tional geführten Diskussion um Integra­tion den Anschluß zu verlieren- eine Befürchtung, die auch in Deutschland spürbar ist und bei uns teilweise mit un­kritischer Bewunderung ausländischer Modelle kompensiert wird.

Der Ausgangspunkt ist freilich in Frank­reich ein anderer als in der Bundesre­publik: Die überwältigende Mehrheit der Kinder, die Sonderunterricht erhiel­ten, war immer in additiv einer allgemei­nen Schule angegliederten Klasse unter­gebracht, eigenständige Sonderschulen spielten nur eine untergeordnete Rolle. Selbständige Einrichtungen finden sich überwiegend unter den mehr medizi­nisch oder sozialfürsorgerlisch ausge­richteten Instituten unter Leitung des Gesundheits- und Sozialministeriums. Darüber hinaus wurde in offiziellen Tex­ten bereits seit Jahrzehnten immer wie­der die Priorität der Aufnahme Behin­derter innormale Klassen festgelegt; dabei klingen die Formulierungen manchmal wie Vorwegnahmen des amerikanischen Prinzips desleast re­strictive environment(der am wenig­sten einschränkenden Umgebung): Ein Erlaß von 1959 favorisiert den Unterricht Körperbehinderter in allgemeinen Schu­len, ein anderer von 1965 stellt das allge­meine Prinzip auf, behinderte Kinder (enfants inadaptes)unter Bedingun­gen zu beschulen, die so nah wie mög­lich den normalen sind, und dabei zu vermeiden, sie von ihrem natürlichen, familiären und schulischen Milieu zu se­parieren, ein Gesetz, die sogenannte Loi dorientation, kodifiziert schließ­lich 1975 diesen Grundgedanken. Während in den drei genannten Texten das Wort Integration nicht erscheint, streben zwei Erlasse von 1982 und 1983 ausdrücklich die Umsetzung einerPoli­tik der Integration in die Praxis an, beto­nen dabei mehrfach, es sei mit Bedacht, undogmatisch und mit Offenheit für vielfältige Formen der Integration vor­

Ulrich Schröder:Lernbehinderte in Frankreich- Zu Stand und Entwicklungstendenzen der französischen Sondererziehung und Integrations­

zugehen, und wollen dem Eindruck ei­ner Bedrohung entgegenwirken. Verge­bens sucht man jedoch darin das im Titel versprochene wirkliche In-Gang-Setzen neuer Maßnahmen zur Integration. Man gewinnt den Eindruck, die beiden Papie­re hätten eher einen Hauptzweck darin, Widerstände gegen Integration abzu­bauen.

Übrigens gilt für Frankreich- wie für Ita­lien-, daß zuweilen schon die Aufnah­me Behinderter in das Schulwesen über­haupt- Behinderter also, die bislang noch gar keinen Schulunterricht erhal­ten haben- mit dem AusdruckIntegra­tion belegt wird.

Als schulisch integriert führt die Statistik für 1984/85 28 250 Kinder und Jugendli­che auf. Diese Zahl ist möglicherweise zu niedrig, weil wirkliche Integration die Herausstellung der Betroffenen als Be­hinderte negieren wird und deshalb der amtlichen Zählung vorenthält. Zu be­merken ist freilich, daß der Anteil der Intelligenzgeminderten an den Inte­grierten weit hinter ihrem Anteil an der gesamten Sondererziehung zurück­bleibt, während es sich bei Körperbehin­derten und Sinnesgeschädigten genau umgekehrt verhält. Darüber hinaus er­folgt ihre Eingliederung häufiger als bei anderen Behinderten auf Vorschlag (oder gar Drängen?) der Sonderpädago­gik-Kommissionen der Departements, nicht direkt durch Eltern oder/und Schule. Schließlich verteilen sich die in­tegriertendeficients intellectuels auf Primar- und Sekundarstufe im Verhält­nis von mehr als 5:1. Muß man etwa ver­muten, daß die in die Primarschule inte­grierten sich anschließend in der S.E.S. wiederfinden, die ja einen so bedeuten­den Teil ihrer Schülerpopulation aus den normalen Primarschulen erhält? Bis 1982/83 war die Zahl der schulisch integrierten Behinderten steil angestie­gen auf 31300, im folgenden Jahr er­staunt ein Rückschlag um über 13%. Dieser geht allerding, sieht man näher zu, allein auf das Konto der von den De­partementskommissionen vorgeschlage­nenIntelligenzgeminderten, deren Zahl(von 9000 im Schuljahr 1982/83) halbiert wird.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987