Ulrich Schröder:„Lernbehinderte” in Frankreich- Zu Stand und Entwicklungstendenzen der französischen Sondererziehung und Integrations
bemühung
Offenbar tut man sich im französischen Schulwesen mit der Integration der Debilen besonders schwer. Es ist aber nicht zu verkennen, daß auch in der Bundesrepublik die erfolgreichsten und beständigsten Integrationsmodelle und-versuche nicht die Lern- und Geistigbehinderten betreffen(von den Verhaltensgestörten ganz zu schweigen), sondern ebenfalls die Körper- und Sinnesgeschädigten. Selbst in Italien ist das gleiche Phänomen zu beobachten.
Im folgenden will ich mich vier Einrichtungen des französischen Schulwesens zuwenden, die allgemein und seit Jahren bestehen- also nicht spektakuläre und singuläre Modelleinrichtungen sind und die Verminderung von Separierung intendieren, sei es präventiv innerhalb der Primarschule wie die Stützmaßnahmen, die G.A.P.P. und die„classes d’adaptation”, sei es additiv kooperierend(bzw. Kooperation erheischend) und dazu berufsvorbereitend wie die S.E.S. Auch diese Auswahl, die Darstellung und die Analyse geschehen vorzugsweise aus lernbehindertenpädagogischem Blickwinkel.
Sections d’education specialisee(S.E.S.)
Die S.E.S., Abteilungen für Sonderunterricht an Sekundarstufenkollegs, wurden 1965 angekündigt und zwei Jahre später endgültig und unter ihrem heutigen Namen eingerichtet. Sie sollten zwar den Anschluß an die„classes de perfectionnement” herstellen, insbesondere im Hinblick auf eine vorberufliche und berufliche Bildung, wurden jedoch von vornherein mit zwei Einschränkungen versehen: Erstens ist 1967 nur noch von großstädtischen Gebieten die Rede, in denen sie einzurichten seien, und zweitens sei nur von„leicht Debilen” zu erwarten, daß sie in die- an etwa jeder vierten Sekundarschule einzurichtenden- Sonderklassen aufgenommen werden könnten. Gerade mit letzterer Bestimmung wird eine Unterteilung der
Schülerschaft der„classes de perfectionnement” in leicht und mittelgradig Debile vorausgesetzt, die ziemlich unrealistisch ist.
Die S.E.S. sollen in 6 Klassen und vier oder fünf aufsteigenden Niveaus 90 Schülerinnen und Schüler umfassen, denen zunächst zwei Jahre lang hauptsächlich allgemeinbildender Unterricht, danach je zur Hälfte allgemeinbildender und berufsbildender Unterricht erteilt wird. Der berufsbildende Anteil entwikkelt sich dabei von einer relativ breiten Grundlegung zur Spezifizierung einzelner Berufsbilder. Da man in der Bevölkerung ungefähr 3% leicht Debile annahm, wurden die S.E.S. auch für diesen Prozentsatz der altersgleichen Jugendlichen geplant; faktisch machen sie inzwischen jedoch deutlich mehr als 4% aus, wobei sicher der starke Zufluß aus den normalen Klassen der Primarschule eine Rolle spielt.
Was im übrigen die augenblicklichen Gegebenheiten der S.E.S. angeht, so sind wesentliche Daten schon genannt worden, die schulische Vorgeschichte etwa, der erhöhte Anteil der Jungen und die fast komplette Subsumierung der Schülerschaft unter den Debilitätsbegriff(1985/86: 97%). Der Ausländeranteil an der Population von rund 113 000 S.E.S.-Schülerinnen und-Schülern beträgt 18%, in der Hauptsache von Nordafrikanern und Portugiesen erbracht. Die berufliche Ausbildung konzentriert sich auf wenige Berufsfelder: Mehr als drei Viertel der männlichen Jugendlichen arbeiten in den fünf Bereichen Holz, Bau, Metallbau, Maler/Anstreicher und Bedachung/Gas-, Wasser-, Heizungsinstallation, bei den weiblichen Jugendlichen gar über 90% in nur zwei Bereichen: Gastgewerbe u.ä. und Textil/Bekleidung. Ähnliche Konzentrationen auf wenige Berufsfelder sind übrigens auch in der Berufsbildung innerhalb der Heimsonderschulen E.N.P. bzw. E.R.E.A. festzustellen(vgl. hierzu „Entwicklung und Stand der Sondererziehung in Frankreich)(alle Zahlen von 1985/86).
Katastrophal stellt sich der schulische Leistungsstand der jährlich Neuaufge
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987
nommenen dar: In einer Untersuchung ist von 30% der Überwiesenen die Rede, die nicht lesen, 50% die kaum schreiben können(Zucman 1983). In einer S.E.S. in der Pariser Bannmeile wurden mir noch höhere Prozentzahlen von Schülern genannt, bei denen zunächst die Grundlagen für die Möglichkeit beruflicher Integration überhaupt erst gelegt werden müssen.
Damit wird der beruflich integrierende Charakter der S.E.S. erheblich gefährdet. Aber auch die additive Form der Eingliederung in die Sekundarstufenkollegs- eine Form, die auch in der Bundesrepublik immer wieder zumindest als Vorstufe zur vollen Integration gehandelt wird- führt nur höchst selten zu Kooperationen mit den Kollegs, obwohl eine gemeinsame Schulleitung installiert ist. 1982 mahnt eine ministerielle Dienstanweisung unter Berufung auf die „Politik der Integration” eine stärkere Anteilnahme der Kollegs an der Erzie
hung der S.E.S.-Schüler und die volle
Einbindung der Sektionen in jene an. Schließlich verlangt die Zusammensetzung der Schülerschaft eine kritische Betrachtung: Daß die früheren Sonderklassenschüler mit Absolventen der Primarschule zusammenkommen(beide Gruppen machen, wie gesagt, jeweils etwa die Hälfte der Neuaufnahmen aus), mag als Schritt zu sozialer Integration- mit viel gutem Willen freilich nur- verstanden werden; für die ehemaligen Primarschüler muß es zugleich eine Ausgliederung aus der Gruppe der früheren Klassenkameraden bedeuten, die nun eine andere, „normale” Sekundarschule besuchen. Außerdem bedeutete die Bezeichnung nahezu aller S.E.S.-Schüler als„leicht debil”, wäre sie wirklich vertrauenswürdig, daß mindestens 5 Jahre lang die Primarschule ohne Erfolg solche debilen Schüler beschult hätte.
Diese Widersprüchlichkeiten in der aktuellen Entwicklung der S.E.S. sind seit geraumer Zeit bemerkt worden- insbesondere durch die stete quantitative Zunahme dieser Sonderklassen- und sind Gegenstand ministerieller Arbeitsgruppen geworden. Diese sollten Konzepte für eine Steuerung der Fehlentwicklung
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