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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember: Sonderpädagogik als Integrationswissenschaft und Interventionswissenschaft: Betrachtungen zur Rezeption der operanten

Lernpsychologie

geschnitten sind(vgl. Kanter 1985). Kanters Konzeption ist zum gegenwärti­gen Zeitpunkt eher programmatisches Forschungsdesiderat als die Beschrei­bung sonderpädagogischer Wissen­schaftspraxis. Zwar hat Kanter selbst (z.B. 1977; 1985) konkrete Beispiele ge­liefert, aber Versuche, seine Konzeption systematisch umzusetzen, stehen weit­gehend noch aus.

Ein weiterer Schritt in die von Kanter vorgezeichnete Richtung soll mit der vorliegenden Arbeit unternommen wer­den, und zwar am Beispiel der Lerntheo­rie Skinners und Problemen ihrer An­wendung in sonderpädagogischen Ar­beitsfeldern. Daß die Wahl auf Skinners Arbeiten fiel, hat mehrere Gründe: Er­stens tritt Skinners instrumentelle Lern­theorie mit universellem Geltungsan­spruch auf(Skinner 1953), der besonders im Hinblick auf die Erziehungswissen­schaft immer wieder betont wird(z. B. Skinner 1954 a; 1984). Zweitens haben Skinners Arbeiten in den USA eine mächtige Bewegung ausgelöst, die im klinischen Bereich als Verhaltensthera­pie, im außerklinischen Bereich als Ver­haltensmodifikation bekannt geworden ist, und drittens hat diese Bewegung von Anfang an starke Bezüge zur Sonder­pädagogik gehabt und deren Theorie und Praxis in zahlreichen westlichen Ländern nachhaltig beeinflußt.

In dieser Arbeit soll gezeigt werden, daß eine kritische Analyse nachbarwissen­schaftlicher Theorien und eine metho­denkritische Prüfung ihres empirischen Bewährtheitsgrades die Voraussetzun­gen schafft für eine praxisbezogene Inte­gration nachbarwissenschaftlicher Be­funde, die zu einer Effektivierung son­derpädagogischer Interventionsmaß­nahmen beitragen kann. Die Vorge­hensweise dieser Arbeit orientiert sich also an rationaler Theorieprüfung einer­seits und historischer Rekonstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis anderer­seits. Im folgenden wird zunächst Skin­ners Theorie für den mit der Materie nicht Vertrauten in groben Zügen skiz­ziert und hinsichtlich ihrer empirischen Basis analysiert. Anschließend werden frühe Applikationsversuche mit späte­

ren Versuchen der Integration operanter Lernprinzipien in sonderpädagogische Interventionsmaßnahmen verglichen. Die Diskussion wird nicht nur ein kriti­sches Licht auf Skinners Theorien und Methoden werfen, sondern auch einige schwerwiegende Vorwürfe, die man ge­gen lernpsychologisch orientierte Son­derpädagogen Ende der 70er Jahre erho­ben hat, in einem neuen Licht erschei­nen lassen.

Skinners Lerntheorie und ihre empirischen Grundlagen

B. F. Skinner versteht sich als radikaler Behaviorist; er beschäftigt sich aus­schließlich mit beobachtbarem Verhal­ten, wobei er die Existenz anderer mögli­cher Erfassungsmodi wie physiologische Zustände, emotionale Prozesse oder kognitive Strategien keineswegs leugnet, - er hält sie jedoch für ungeeignete Ge­genstände einer wissenschaftlichen Ver­haltensanalyse, da physiologische oder mentale Begriffe den Forscher tenden­ziell dazu verführen, unzureichend ver­standene Verhaltensmuster durch hypo­thetische Konstrukte zu erklären, die, da sie nicht der direkten Beobachtung zu­gänglich sind, kaum empirisch falsifiziert werden können und in der Forschungs­praxis häufig zu Scheinerklärungen wer­den, mit denen sich die wissenschaft­liche Gemeinschaft allzu leicht zufrie­den gibt. Skinner hält deshalb die Kon­struktion einer hypothetisch-deduktiven Verhaltenstheorie nicht für sinnvoll, sondern allein die systematische Ermitt­lung und objektive Beschreibung von regelmäßigen Beziehungen zwischen externen Bedingungen des Verhaltens (als unabhängigen Variablen) und be­stimmten Reaktionen des Individuums (als abhängigen Variablen).

Skinners Vorgehensweise läßt sich als radikal empirisch bezeichnen: Sowohl die externen Bedingungen als auch das Verhalten selbst sind operational zu de­finieren und objektiv zu messen; Reize

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987

sind hinsichtlich ihrer physikalischen Ei­genschaften zu beschreiben, Reaktionen hinsichtlich objektivierbarer Merkmale wie z.B. muskulärer Bewegungsablauf, Latenzzeit nach Reizdarbietung oder Reaktionsrate pro Zeiteinheit. Immer dann, wenn der Forscher regelmäßige und beliebig replizierbare Beziehungen zwischen genau definierten Reizen und präzise beschriebenen Reaktionen fest­stellt, spricht Skinner von einer funktio­nalen Beziehung oder einem Verhal­tensgesetz(principle of behavior); dieses ist nicht mit einem logisch validen Kau­salgesetz zu verwechseln, kommt dem unter pragmatischen Gesichtspunkten jedoch gleich, da erfolgreich durchge­führte funktionale Analysen zur Entdek­kung beliebig herstellbarer, manipulier­barer und hinreichender Bedingungen zur Auslösung bestimmter Verhaltens­weise führen.

Skinner verbindet die Pawlowsche Tra­

dition der Lernpsychologie mit der von

Thorndike, indem er zwei grundsätzlich

verschiedene Arten von Verhalten po­

stuliert, respondentes und operantes

Verhalten, übersetzt etwaAntwortver­

halten undWirkverhalten bzw.in­

strumentelles Verhalten. Beide Verhal­tensarten- unterscheiden sich hinsicht­lich der Reizkontrolle und hinsichtlich des Abhängigkeitsverhältnisses von Ver­halten und darauffolgender Konsequenz

(vgl. Scheerer 1983, 54-57):

- ARespondentes Verhalten ist stimu­lusbedingt, d.h. es wird von einem Reiz ausgelöst(elicited); operantes Verhalten wird vom Organismus spontan gezeigt(emitted, wörtlich: ausgeschickt), es ist reizunabhän­gig(wenngleich es durch operantes Konditionieren unter Stimuluskon­trolle gebracht werden kann, was in dieser kurzen Übersicht jedoch nicht diskutiert werden soll).

- Respondentes Verhalten wird durch klassische Konditionierung geän­dert, bei dem Reize gepaart werden; operantes Verhalten wird durch ope­rante Konditionierung geändert, d.h. die Auftretenshäufigkeit von operantem Verhalten ist von den

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