Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
168
Einzelbild herunterladen

Franz B. Wember: Sonderpädagogik als Integrationswissenschaft und Interventionswissenschaft: Betrachtungen zur Rezeption der operanten

Lernpsychologie

Experimentelle Anordnungen, die sich im Labor bewährt hatten, suchte man so zu adaptieren, daß man analoge Versu­che mit Kindern durchführen konnte. Diese Zielrichtung bedingte eine extre­me Standardisierung und rigide Kontrol­le der Umweltbedingungen, die aus­schließliche Verwendung einfacher, ma­schinell darbietbarer Stimuli, die Reduk­tion der abhängigen Variablen auf ein­fachste motorische Reaktionen und die automatische Darbietung von materiel­len Verstärkern(obwohl Ferster und DeMyer z. B. auch nichtmaterielle, ma­schinell darbietbare Verstärker verwen­den wie etwa reaktionskontingent proji­zierte visuelle Muster). Die Forscher stellten eine künstliche, hoch kontrol­lierte Lernumwelt her, in der sich das Kind seltsamen Reizen ausgesetzt sah, auf die zu reagieren ihm nur einge­schränkte Möglichkeiten offenstanden, und diese vergleichsweise primitiven Reaktionen wurden mit Bonbons und anderen Annehmlichkeiten belohnt.

Wie sind solche Applikationsstudien einzuschätzen? Sie lassen sich sowohl positiv als auch negativ bewerten, es kommt dabei auf den Betrachtungs­aspekt an. Vom Standpunkt der empiri­schen Theorieprüfung her betrachtet sind die oben skizzierten Studien zu­nächst positiv zu bewerten: Sie erwei­tern den Geltungsbereich der operanten Lerntheorie, indem sie die Gültigkeit operanter Lernprinzipien bei Kindern empirisch nachweisen. Gerade die Ana­logie zum Laborexperiment ist hier von Vorteil: Indem man Verfahrensweisen aus Skinners Laborversuchen, die sich ja - wie in Abschnitt 2 gezeigt- zur Opera­tionalisierung zentraler operanter Kon­zepte besonders eignen, in Praxisfeldern anwendet, kann man die von Skinners Verfahren bekannten Vorteile(s. 0.) zur Sicherung der internen Validität nutzen: Außerexperimentelle Störvariablen wer­den weitgehend kontrolliert, die effekti­ven Stimuli sind zweifelsfrei zu identifi­zieren, das operante Verhalten kann man objektiv messen und kann primäre Verstärker einsetzen, deren Verstärker­funktion a priori angenommen werden kann und nicht vorab durch funktionale

168

Analyse eigens bestätigt werden muß. Kurzum, es findet ein direkter Transfer der Begriffe und Methoden aus dem Lernlabor in die pädagogische Praxis statt, ohne daß diese wesentlich geän­dert werden müßten,... the transition between the learning laboratory and the interventions with low functioning indi­viduals was accomplished with a mini­mum of distortion of the principles or the methodology(MacMillan& Morri­son 1980, 7).

Die genannten Vorteile sichern zwar die interne Validität der Applikationsstu­dien, sie verkehren sich jedoch in ihr Ge­genteil, wenn man nach der externen und ökologischen Validität fragt. Die hochkontrollierte und künstliche Expe­rimentalsituation dürfte kaum repräsen­tativ für sonderpädagogische Realsitua­tionen sein, und es ist fraglich, ob sich Kinder in solch restriktiven Situationen alltagstypisch verhalten, in denen sie auf bedeutungslose Stimuli durch immer wieder auszuführende, stereotypische Handlungen reagieren sollen, die keinen lebenspraktischen Wert haben. In der Tat kann heute als gesichert gelten, daß die von Skinner und Mitarbeitern be­schriebenenprinciples of reinforce­ment als formale Gesetze universell gültig sind, inhaltlich jedoch sind sie höchst spezifisch und nur individuell gültig(vgl. Scheerer 1983, 40-41 und 133-135). Die Wirkung bestimmter Ver­haltenskontingenzen kann nicht gene­rell bestimmt werden, sie unterliegt si­tuativen und artspezifischen Beschrän­kungen(Seligman 1970) und macht im konkreten Fall sogar eine präzise Analy­se der idiosynkratischen Lerngeschichte des Individuums notwendig. Skinner hat bereits vor mehr als drei Jahrzehnten (1953, Kapitel 14) ausführlich erläutert, daß man einfache und regelmäßige funktionale Beziehungen nur bei relativ einfachen Lebewesen mit relativ einfa­cher Lerngeschichte in streng kontrol­lierten Umgebungen entdecken könne, während man bei der Analyse menschli­chen Verhaltens in Realsituationen von komplexen Interaktionen multipler, si­multan wirkender Reiz- und Verstärker­variablen ausgehen müsse.

Ähnlich differenziert muß die Bewer­tung von Applikationsstudien aus prakti­scher Perspektive ausfallen. Die genann­ten Studien haben zu ihrer Zeit zweifel­los wichtige positive Impulse gesetzt: Es gelang erstmalig zu zeigen, daß man auch bei schwerstbehinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die bis dahin als weigehend lernunfähig und therapieresistent galten, Lernprozesse gezielt in Gang setzen und Verhalten sy­stematisch ändern kann. Auf Grund die­ser optimistisch stimmenden Resultate wurden im Bereich der Sonderpädago­gik und klinischen Psychologie Serien von Folgestudien in Gang gesetzt, in de­nen man erstmalig Programme für Schwerbehinderte entwickelte, eine Per­sonengruppe, die bis dahin von den Wis­senschaftlern kaum beachtet worden war. Andererseits wirft die mangelnde externe und Ökologische Validität der Applikationsstudien hinsichtlich ihrer Generalisierbarkeit auf Praxissituatio­nen schwerwiegende Bedenken auf: Ei­ne auf wenige Stimulusdimensionen re­duzierte und rigide kontrollierte Lern­umwelt ist in Schulen nicht gegeben, wahrscheinlich kaum herstellbar, auf je­den Fall nicht wünschenswert. Die im Experiment gelernten Verhaltensweisen sind in den allerwenigsten Fällen son­derpädagogisch relevant.Hebel drücken, um Bonbons zu bekommen mag eine brauchbare Operationalisie­rung des theoretischen Konstruktsin­strumentelles Verhalten sein, es ist je­doch wenig sinnvoll, diese Verhaltens­weise zum zentralen Gegenstand der pädagogischen Förderung autistisch ge­störter Kinder zu erheben; denn es gibt eine Vielzahl lebenspraktisch bedeutsa­mer Verhaltensdefizite, die vorrangig zu beheben wären. Süßigkeiten sind bei Kindern, die- wie die Vpn der meisten Applikationsstudien- lange Jahre hospi­talisiert waren, zweifellos äußerst wirk­same Verstärker, aber reaktionskontin­gente Süßigkeitsgaben dürften für die sonderpädagogische Lösung alltäglicher Lernprobleme in Schulklassen wohl kaum geeignet sein(wie noch zu zeigen sein wird).

Kurzum: Applikationsstudien haben in

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987