Franz B. Wember: Sonderpädagogik als Integrationswissenschaft und Interventionswissenschaft: Betrachtungen zur Rezeption der operanten
Lernpsychologie
der Sonderpädagogik und klinischen Psychologie ihrer Zeit wichtige Entwicklungen ausgelöst und positive Akzente gesetzt, obgleich die experimentell angewandten Lehrmethoden für die praktische Arbeit nicht geeignet sind. Applikationsstudien sind, wie MacMillan und Morrison(1980, 6) meinen, wichtige Zwischenschritte auf dem Weg des Behaviorismus vom Lernlabor ins Klassenzimmer gewesen:„Despite the fact that these efforts were not educational in nature... they are significant in the sense that they provided a transitional step between laboratory and classroom, and the successes most certainly were persuasive to the educational community in terms of the general promise of behaviorism in educational settings.”
Integrationsversuche im Klassenzimmer
Mitte der 60er Jahre erschien der erste Forschungsbericht über die Anwendung operanter Lernprinzipien bei der Förderung einer ganzen Schulklasse(Birnbrauer, Bijou, Wolf& Kidder 1965). Wie die im letzten Abschnitt angesprochenen Applikationsstudien kam auch diese Arbeit aus dem Bereich der Sonderpädagogik. Die Autoren versuchten, durch eine sorgfältige Strukturierung des Klassenzimmers in Arbeitsbereiche, Methoden der Programmierten Instruktion und systematische Vergabe von Verstärkern während des gesamten Schultages das Lern- und Leistungsverhalten von geistigbehinderten Schülern einer Sonderklasse effektiv zu fördern. Behavioristen hatten damit den Schritt vom Lernlabor ins Klassenzimmer gewagt, und Arbeitsgruppen um Sidney Bijou, Wesley Becker, Don Bushell und Daniel O’Leary veröffentlichten in den Folgejahren Serien von Studien, in denen man verschiedene Aspekte der schulischen Lernumwelt, vor allem aber das Lehrerverhalten, im Sinne operanter Prinzipien
zu optimieren suchte. Diese Forscher hatten sich an die Lösung praktischer Probleme begeben, und die weitreichenden Auswirkungen dieses Umschwungs von der Theoriekonstruktion und-prüfung hin zur anwendungsbezogenen Forschung dokumentierten sich in der Gründung des„Journal of Applied Behavior Analysis” und dem programmatischen Grundsatzreferat von Baer, Wolf und Risley(1968) in der ersten Ausgabe dieser Zeitschrift. Die vielfältigen pädagogischen Neuansätze dieser Zeit können hier nicht alle verfolgt werden; es sollen vielmehr einige exemplarische Arbeiten dargestellt und analysiert werden, um die pädagogischen Erträge wie die Grenzen von Versuchen der Integration operanter Lernprinzipien in schulische Problemlösungsversuche realistisch beurteilen zu können.
Madsen, Becker und Thomas(1968) untersuchten die Auswirkungen von experimentell variierten Lehrerverhaltensweisen auf das Unterrichtsverhalten von Schülern. Das erste Experiment fand in einem zweiten Schuljahr statt. Die Lehrerin wurde instruiert, ihr Verhalten systematisch zu ändern(unabhängige Variable): Nach Erhebung einer Grundrate in Phase A des Versuchs(vgl. Abb. 3 A) sollte sie zunächst explizite Verhaltensregeln für die Klasse formulieren und den Schülern verbindlich bekanntgeben (Phase B), dann zusätzlich unangemessenes Verhalten ignorieren(Phase BC) und schließlich zusätzlich konstruktives Verhalten durch Lob und Anerkennung positiv verstärken(Phase BCD). Nach einer Rückkehr zu Phase A, die der Sicherung der internen Validität des Experiments diente, wurde nochmals die letztgenannte experimentelle Bedingung eingeführt(vgl. Abb. 3 A). Trainierte Beobachter protokollierten während der gesamten Studie täglich das Unterrichtsverhalten zweier Schüler(abhängige Variablen), die als wenig interessiert am Unterricht beschrieben wurden und durch eine Vielzahl unterrichtsstörender Verhaltensweisen und häufige, spontan auftretende Aggressionen gegen Mitschüler aufgefallen waren.
Madsen und Mitarbeiter stellten fest,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987
daß das Formulieren von Klassenregeln allein wenig erfolgreich war(Phase B), und bei zusätzlichem Ignorieren unterrichtsstörender Verhaltensweisen nahmen diese sogar zu(Phase BC, vgl. Abb. 3 A). Bei gleichzeitiger sozialer Verstärkung konstruktiven Unterrichtsverhaltens jedoch sank der Prozentsatz von Störaktivitäten bei beiden Schülern deutlich ab. Da dieser Effekt bei Ausblenden der Intervention(Rückkehr zur Phase A, Umkehr-Design) verschwand und bei Wiedereinsetzen der Intervention erneut auftrat, kann man davon ausgehen, daß die experimentelle Bedingung BCD in der Tat für die positiven Verhaltensänderungen bei den beiden beobachteten Schülern verantwortlich war. Die interne Validität dieser Folgerung wird gestützt durch ein zweites, analog angelegtes Experiment, in dem die Autoren die erzielten Resultate bei einem„Problemschüler” in einer Vorschulklasse replizieren konnten(vgl. Abb. 3 B).
Verglichen mit Applikationsstudien zeigen sich bei dieser Untersuchung umgekehrte Stärken und Schwächen. Aus pädagogisch-praktischer Perspektive fällt die hohe externe und ökologische Validität auf. Hier wird nicht eine künstliche Lernumwelt gemäß den Skinnerschen Laborvorgaben gestaltet, sondern operante Prinzipien werden in schulpraktische Problemlösungsversuche integriert. Das gewohnte Lernumfeld bleibt intakt, die experimentellen Methoden können ohne weiteres im schulischen Alltag realisiert werden, und die abhängigen Variablen sind von praktischer Relevanz. Madsen, Becker und Thomas weisen folglich empirisch nach, daß eine Lehrerin ihr Unterrichtsverhalten durch entsprechendes Training systematisch variieren kann und daß spezifische, im sonderpädagogischen Alltag realisierbare Verhaltensweisen positive Auswirkungen auf das Schülerverhalten im Unterricht haben.
Anders fällt die Beurteilung der Studie von Madsen et al. jedoch aus, wenn man sie nach theoretischen Gesichtspunkten analysiert. Zwar kann die interne Validität des Experiments wegen der erfolgrei
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