Franz B. Wember: Sonderpädagogik als Integrationswissenschaft und Interventionswissenschaft: Betrachtungen zur Rezeption der operanten
Lernpsychologie
operanten Verhaltens. Übertragen auf das Experiment von Madsen et al. entspricht also das Beibehalten bzw. Ansteigen des Störverhaltens in der Experimentalphase B durchaus den theoretischen Erwartungen. Da die Extinktionsphasen in beiden Schulklassen nur wenige Tage andauerten, könnte man annehmen, Madsen et al. hätten in ihrem Experiment nur jeweils die Anfangsphase der Extinktion erfaßt, für die ein Ansteigen bzw. Beibehalten des operanten Verhaltens typisch ist. Ignorieren wäre gemäß dieser Erklärung nur scheinbar ineffektiv.
Eine solche operante Interpretation der geringen Effekte in Phase B ist theoretisch stimmig, fraglich ist jedoch, ob sie ausreicht, die in vielen Folgestudien bestätigte Ineffektivität von Ignorieren als Methode zur Reduktion unerwünschten Verhaltens zu erklären. Diese Methode allein, so hat sich gezeigt, ist praktisch unbrauchbar. Das Störverhalten hält so lange an, daß der Lehrer gezwungen ist, andere Maßnahmen zu ergreifen, etwa indem er- wie in der oben referierten Studie- das Ignorieren unerwünschten Verhaltens mit dem positiven Verstärken erwünschten Verhaltens verbindet. Da letzteres mit Störverhalten inkompatibel ist, reduziert es dessen Auftretenswahrscheinlichkeit; denn ein Schüler kann nicht gleichzeitig ruhig arbeiten und den Unterricht durch Umherlaufen etc. stören. Solch eine Kombination ist eine praktisch brauchbare und, wie gesehen, effektive Methode. Damit ist die Ineffektivität von Extinktion in der Schulklasse jedoch nach wie vor noch nicht theoretisch geklärt.- Solch eine Erklärung verläßt den Rahmen der operanten Lerntheorie.
Extinktion, so wurde gesagt, findet statt, wenn man operantem Verhalten, das von Verstärkungskontingenzen aufrechterhalten wird, die Verstärkung entzieht. Dies ist die operationale Definition von Extinktion für Lernexperimente. Sie ist eindeutig und objektiv, da im Labor die Elemente dieser Definition durch eindeutige Meßvorschriften operationalisiert sind(vgl. Abschnitt 2). Im Klassenzimmer verliert diese Definition
jedoch ihre Präzision und Objektivität,
da selbst die elementaren Konstrukte
der operanten Theorie hier nicht eindeutig zu operationalisieren sind:
- Man kann unterrichtsstörendes Verhalten durchaus als operantes Verhalten auffassen, aber anders als in der Skinner-Box ist im Klassenzimmer nicht ohne weiteres entscheidbar, ob es unter der Kontrolle antezedenter oder konsequenter Reize steht, ob es also möglicherweise respondentes Verhalten ist.
— Falls das Störverhalten als Reaktion auf bestimmte Reize auftritt, stellt sich die Frage, welche die diskriminativen Stimuli sind und von wem sie ausgehen. Die Beantwortung dieser Frage dürfte oft schwierig sein, da vielfältig Reizquellen in Frage kommen(z.B. Verhaltensweisen des Lehrers, langweiliger Unterrichtsstoff, reale oder vermeintliche Provokationen durch Mitschüler etc.) und man davon ausgehen muß, daß komplexe Verhaltensweisen in einer komplexen Situation multipel reizdeterminiert sind. Die zweifelsfreie Identifikation der effektiven Stimuli ist so kaum möglich.
— Falls das Verhalten instrumentell auftritt, um positive Verstärker zu produzieren, stellt sich die Frage, welche Verstärker erwartet und von wem sie vergeben werden. Auch in diesem Fall muß von einer multiplen Determination unterrichtsstörenden Verhaltens ausgegangen werden. Madsen und Mitarbeiter z.B. nehmen an, bei Unterrichtsstörungen seien die Lehrerreaktionen die entscheidenden positiver Verstärker. Dies ist zunächst einmal eine Hypothese. Es kann ebenso möglich sein, daß das Störverhalten intrinsisch motiviert ist und die Ausführung dieses Verhaltens selbst schon verstärkend wirkt oder daß die Mitschüler Störverhalten bekräftigen. Man müßte solche konkurrierenden Erklärungen empirisch testenxaber die funktionale Analyse alltäglicher Kontingenzen ist sehr schwierig. In Situationen außerhalb der Skinner
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987
Box können„Verstärker” nämlich nicht a priori und generell gültig definiert werden. Ob einem bestimmten Ereignis bei einem individuellen Schüler im Hinblick auf ein operantes Zielverhalten verstärkende Funktion zukommt, kann nur im nachhinein festgestellt werden. In einer Schulklasse wird man auf diese Weise eventuell für jeden Schüler unterschiedliche Verstärker ausfindig machen(idiosynkratische Spezifität). Die idiosynkratische Spezifität von Verstärkern ist im Labor von untergeordneter Bedeutung, in Praxissituationen wird sie jedoch zu einem zentralen Problem; denn es ist einem Lehrer z. B. nicht möglich, alle Schüler seiner Klasse kontinuierlich zu beobachten, für jeden Schüler individuelle Verstärker bereit zu halten, diese reaktionskontingent zu vergeben und dabei womöglich noch differentielle Verstärkungspläne einzuhalten. Einen Versuch, solche Probleme zu 1ösen, stellen die sog.„token economies” dar, zu deutsch„Münzverstärkungsprogramme”., Hier werden Wertmarken, Spielgeld, Stempelabdrucke etc. als symbolische Verstärker reaktionskontingent ausgegeben, die generelle verstärkende Wirkung erhalten, da sie zu einem späteren Zeitpunkt gegen„back up reinforcers”(dt. etwa„Stützverstärker”) eingetauscht werden wie z. B. beliebte Aktivitäten, Spielzeug oder Süßigkeiten. Generalisierte symbolische Verstärker lösen das Spezifitätsproblem, denn sie können mit beliebigen, nötigenfalls an individuelle Schüler adaptierten Eintauschverstärkern gekoppelt werden. Außerden erfüllen sie drei weitere wichtige Voraussetzungen für effektive operante Konditionierung: Sie können(a) unmittelbar in der„natürlichen” Situation,(b) reaktionskontingent und(c) konsistent nach gleichbleibenden Kriterien vergeben werden. Durch sorgfältig formulierte Regeln, die den Eintausch von„Münzen” gegen Stützverstärker nach„ökonomischen” Prinzipien von Angebot und Nachfrage regulieren, kann man Übersättigung durch zu häufiges Verstärken ebenso vermeiden wie eine Überforderung der Schüler durch zu
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