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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Lernpsychologie

gravierendste- Schwäche der operanten

Lernpsychologie:

- Ein Schüler, der häufig den Unter­richt stört, weiß in der Regel durch­aus, wie er sich angemessener verhal­ten könnte. Er ist sehr wohl in der Lage, zur Tafel zu sehen, zuzuhören, sich zu melden, auf seinem Stuhl zu sitzen etc. Die Zielverhaltensweisen müssen dem Schüler nicht vermittelt werden, sie sind in seinem Verhal­tensrepertoire vorhanden, werden gelegentlich spontan gezeigt, und die pädagogische Aufgabe besteht darin, die Auftretenshäufigkeit zu erhöhen. Diese Problembeschreibung paßt in das Erklärungsraster der operanten Lernpsychologie: das in Frage ste­hende Verhalten ist ein operantes Verhalten, die Methode der Wahl die operante Konditionierung.

- Ein Schüler, der z.B. eine Rechen­aufgabe nicht löst, verfügt noch nicht über das entsprechende Problemlö­sungsverhalten, ein effektiver Algo­rithmus muß ihm erst noch ver­mittel werden. Das Zielverhalten ist folglich noch nicht in seinem Verhal­tensrepertoire vorhanden, die päd­agogische Aufgabe besteht darin, das Zielverhalten erst aufzubauen. Diese Problembeschreibung paßt nicht in das Erklärungsraster der operanten Lernpsychologie; denn das Zielver­halten ist kein operantes Verhalten, folglich kann die operante Konditio­nierung nicht die Methode der Wahl sein.

Die Unfähigkeit des einfachen operan­

ten Lernparadigmas, die Entstehung

neuer Verhaltensweisen zu erklären, hat

Skinner durch die Begriffe desshaping

(dt. Formung) und deschaining(dt.

Verkettung) zu kompensieren gesucht.

Die Methode der Verhaltensformung

besteht aus einem Wechsel von differen­

tieller Verstärkung und Extinktion suk­zessiver Approximationen an ein Ziel­

verhalten. Will man einer Taube z.B.

beibringen, sich im Uhrzeigersinn um

die eigene Achse zu drehen, wartet man ab, bis die Taube den Kopf um ca. 30° nach rechts dreht. Diese Bewegung ver­stärkt man positiv bis sie unter effektiver

Verstärkerkontrolle steht, d.h. gleich­bleibend häufig und gleichförmig ablau­fend gezeigt wird. Danach setzt man den so geformten Operanten unter Extink­tion mit dem Resultat, daß die Verhal­tensvarianz wieder zunimmt. Nun kann man abwarten, bis das Tier eine weiter­gehende Approximation an das Zielver­halten spontan zeigt, etwa indem es den Kopf um 40° dreht und den rechten Fuß leicht in Drehrichtung bewegt, um die­ses Verhalten dann wiederum positiv zu verstärken usw. Ähnlich verfährt man bei der Verhaltensverkettung. Hier wer­den einfache Verhaltensweisen, die im Verhaltensrepertoire des Individuums verfügbar sind, sequentiell verstärkt, so­daß die jeweils vorhergehende Verhal­tenseinheit diskriminativer Stimulus für die nachfolgende Verhaltensweise wird und so allmählich eine quasi-automa­tisch, d. h. ohne steuernden Eingriff von außen, ablaufende Verhaltenssequenz entsteht. Skinner hat mit dieser Metho­de z. B. einer Ratte beigebracht, anhand einer Schnur eine Murmel von einem Gestell zu ziehen, diese mit den Vorder­photen zu einer Röhre zu tragen, sich aufzurichten und die Murmel in die Röhre fallen zu lassen(Scheerer 1983, 85-86).

Bei der Verhaltensformung werden also neue Verhaltensweisen aus Vorformen sukzessive herangebildet, bei der Ver­haltensverkettung werden neue Verhal­tenssequenzen aus einfacheren Verhal­tensweisen zusammengesetzt. Beide Verfahren beruhen auf Prinzipien der operanten Konditionierung, und die ein­zelnen Teilschritte lassen sich in Termi­ni des operanten Lernparadigmas fas­sen, so daß Skinner die Entstehung neuen Verhaltens erfolgreich erklärt hat. Diese Erklärungen gelten jedoch in er­ster Linie für das Lernlabor, im Human­bereich wohl auch für den Erwerb senso­motorischer Verhaltensweisen, nicht je­doch für kognitive Lernprozesse. Nicht nur, daßshaping undchaining wie alle operanten Begriffe in komplexen Anwendungssituationen ihre Objektivi­tät und Präzision verlieren(s. 0.) und nur noch im übertragenen Sinn gebraucht werden können(MacMillan& Morrison

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987

Franz B. Wember: Sonderpädagogik als Integrationswissenschaft und Interventionswissenschaft: Betrachtungen zur Rezeption der operanten

1980, 12-13), sie können selbst unter die­sen Einschränkungen kognitive Lern­prozesse nicht zureichend erklären. Nehmen wir beispielsweise drei fiktive Schüler, die eine Additionsaufgabe bear­beitet haben: (A) 66(B) 66(C) 66 +54+54+54 210 111 12 Die drei Ergebnisse unterscheiden sich beträchtlich von der mathematisch kor­rekten Lösung 120. Kann man diese den Schülern auf dem Wege der Konditio­nierung vermitteln? Man würde vermut­lich zuerst die Einerstelle berechnen und das Ergebnis 0 eintragen lassen. Kann aber im Sinne einer Verhaltensverket­tung die 0 nun diskriminativer Stimulus für die 2 auf der Zehnerstelle und diese wiederum Hinweisreiz für die 1 auf der Hunderterstelle sein? Wohl kaum, denn von zentraler Bedeutung sind die kognitiven Zwischenschritte, die Be­rechnungen. Nehmen wir die andere operante Methode: Kann man durch Verhaltensformung aus den Fehllösun­gen die korrekte Lösung heranbilden? Bei oberflächlicher Betrachtung mag man das für möglich halten; denn Schü­ler A braucht eigentlich nur zwei Ziffern zu vertauschen, Schüler B braucht nur 9 zu addieren und Schüler C seinem Er­gebnis nur eine 0 hinzuzufügen. Solche Shaping-Prozeduren würden jedoch keinem der Schüler helfen, sie würden bei weiteren Aufgaben sehr wahrschein­lich wieder ähnliche Fehler produzieren. Mathematische Aufgaben erfordern kognitive Problemlösestrategien. Wenn man sich auf die Ebene beobachtbaren Verhaltens und die operante Terminolo­gie beschränkt, verliert man die zentra­len Merkmale der Aufgabe aus dem Au­ge, nämlich den systematischen und re­gelgeleiteten Aufbau. Nicht von unge­fähr findet man in Lehrbüchern der päd­agogischen Verhaltensmodifikation in solchen FällenChaining-Prozeduren beschrieben wie:Addiere zuerst die Ei­ner, trage die letzte Stelle des Ergebnis­ses an der Einerstelle ein, trage den Übertrag oberhalb des obersten Zehners ein, addiere die Zehner und den Über­trag, trage das Ergebnis stellengerecht an

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