Franz B. Wember: Sonderpädagogik als Integrationswissenschaft und Interventionswissenschaft: Betrachtungen zur Rezeption der operanten
Lernpsychologie
Zehner- und Hunderterstelle ein.” Solch eine Anweisung ist pädagogisch brauchbar, nur handelt es sich dabei nicht um das Bilden einer Verhaltenskette im operanten Sinne, sondern um die schrittweise verbale Vermittlung eines sachadäquaten Lösungsalgorithmus, eine in zeitgenössischen Ansätzen der sogenannten Kognitiven Verhaltensmodifikation durchaus gebräuchliche Methode.
Kognitive Anforderungen, so ist zu folgern, sind mit kognitiven Mitteln zu lösen. Wer den Schülern A, B und C möglichst effizient helfen will, analysiert zuerst die Systematik ihrer Fehler und behebt dann die jeweils individuellen Abweichungen vom effektiven Algorithmus(Schüler A„rechnet richtig”, er trägt lediglich den Übertrag nach der Addition der Einer auf die Hunderterstelle; Schüler B„rechnet richtig”, aber er durchläuft die Aufgabe irrtümlich in Leserichtung, also von links nach rechts; Schüler C„rechnet richtig”, er mißdeutet jedoch das Additions- als Subtraktionszeichen). Ähnliche Beispiele ließen sich aus dem Deutsch- und Sachunterricht anführen(grammatikalisch bedingte Verlesungen, phonetisch korrekte Fehlschreibungen, unzulässig auf Ausnahmen verallgemeinerte Morphembildungen etc.), die zeigen, daß im Bereich kognitiven Lernens Fehler nur selten zufällig zustande kommen und meist Ausdruck fehlerhafter Regelanwendung sind. Eine Analyse beobachtbaren Verhaltens im Hinblick auf etwaige Reaktions-Kontingenz-Beziehungen greift beim kognitiven Lernen zu kurz, operante Konditionierung allein wird hier pädagogisch kaum weiterhelfen.
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Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
Ausgangspunkt dieser Arbeit war Kanters Konzeption von der Sonderpädagogik als Integrationswissenschaft und Interventionswissenschaft. Auf diesem Hintergrund wurde die operante Lernpsychologie untersucht, die weitreichende Geltung beansprucht und seit mehr als drei Jahrzehnten die theoretische Grundlage für bestimmte sonderpädagogische Interventionsformen bildet. Es wurde gezeigt, daß der Theorie Skinners in ihrem ursprünglichen Geltungsbereich logische Stringenz, begriffliche Schärfe und ein sehr hoher empirischer Bewährtheitsgrad zukommt (Kapitel 2), wenngleich die Theorie in komplexen Alltagssituationen an begrifflicher Schärfe verliert und die empirische Prüfung nicht so stringent erfolgen kann wie im Lernlabor. Zumindest sind Bedenken angemeldet, wenn Gottwald und Redlin(1972, 139) dem Sonderpädagogen die Vorzüge der operanten Terminologie preisen:„Ihr größter Vorzug ist, daß sie eine allgemeine wissenschaftliche Sprache ist, die ihre Definition operationalisiert und erlaubt, über tierisches und menschliches Verhalten mit der gleichen Präzision zu sprechen. Beim Übergang der Analyse zu menschlichem Verhalten entsteht kein grundsätzlicher Bruch.” Die Analyse früher Applikationsversuche(Kapitel 3) hat zudem deutlich gezeigt, daß Versuche der unmittelbaren Anwendung Ooperanter Theorien und Methoden auf sonderpädagogische Probleme kaum zu praktisch sinnvollen Interventionsformen führen. Folgt daraus als Konsequenz, daß man die operante Lernpsychologie als pädagogisch belanglos ablehnen sollte?
Häufig wird die Ablehnung der operanten Lerntheorie mit extremen verhaltensmodifikatorischen Praktiken einzelner Wissenschaftler begründet, etwa token economies in geschlossenen psychiatrischen Einrichtungen, in denen die Befriedigung von Grundbedürfnissen von zu erarbeitenden token abhängig gemacht und den psychisch Kranken zeit
weise Grundrechte vorenthalten wurden. Solche Praktiken sind aus ethischen Gründen eindeutig abzulehnen, man kann jedoch nicht eine wissenschaftliche Theorie verwerfen, weil Einzelne aus dieser Theorie falsche praktische Konsequenzen ziehen. Häufig findet sich die operante Lernpsychologie von Kritikern nur verkürzt oder schlichtweg falsch dargestellt. Beispielhaft sei der vielzitierte Vorwurf genannt, Skinner sei wie alle Behavioristen auch nur ein Reiz-Reaktions-Theoretiker, menschliches Lernen sei jedoch aktiv und nicht passiv. Mit solch einem Vorwurf wird Skinners Arbeit regelrecht auf den Kopf gestellt, denn gerade Skinner hat mit der Unterscheidung von operantem und respondentem Verhalten und der korrespondierenden Unterscheidung von klassischer und operanter Konditionierung die Passivität der klassischen Lerntheorie überwunden. Er hat mit dem Konzept der reziproken Determination (s. 0.) hervorgehoben, daß nicht nur die Umwelt das Individuum prägt, sondern ebenso das Individuum durch sein Verhalten die Umwelt ändert. Scheerer (1983, 58-60) bezeichnet in seiner fundierten Analyse Skinners Theorie zu Recht als radikal-phänomenologische Handlungstheorie und zitiert als einen Beleg den ersten Satz aus Skinners„Verbal Behavior” von 1957:„Die Menschen wirken auf die Welt ein und verändern sie, und durch die Folgen ihres Handelns werden sie selbst geändert”(Skinner, zit. nach Scheerer 1983, 59-60).
Man kann aus sonderpädagogischer Perspektive die operante Lerntheorie nicht pauschal ablehnen, das zeigte die Analyse einiger Integrationsversuche im Klassenzimmer(Kapitel 4). Schulisches Lern- und Sozialverhalten ist multipel reiz- und verstärkungsdeterminiert; der Sonderpädagoge ist gut beraten, wenn er dies bei der Analyse und Planung seiner täglichen Arbeit berücksichtigt und Verstärkungskontingenzen zum Zwecke der Lernförderung systematisch nutzt. Das ist, wie in Kapitel 4 gesehen, möglich und wird seit einigen Jahren in der deutschen Sonderpädagogik gefordert(Masendorf 1979). Man kann verhaltensmo
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIII, Heft 3, 1987