Editorial
Während die psychologische Forschung viele Jahrzehnte hindurch nur wenige oder relativ allgemein gehaltene Hinweise für den Mathematikdidaktiker bereitstellte, hat sich dies in den letzten 20 Jahren geändert. Eine zunehmend größere Zahl von Psychologen und an psychologischer Forschung interessierter Pädagogen beschäftigt sich eingehend mit Fragen des Unterrichts. Von entscheidender Bedeutung für eine Theorie des Mathematikunterrichts ist im Zuge dieser Entwicklung einmal die in der pädagogischen Psychologie zu beobachtende Ablösung eines Fähigkeits- und normorientierten Diagnosemodells durch ein prozeßdiagnostisches Vorgehen. Das bedeutet, daß man der Diagnose in der pädagogischen Praxis nicht nur eine Selektions- oder Zuordnungsfunktion(z.B. Einschulung in eine bestimmte Schulform) zuspricht, sondern ihr auch die Aufgabe zuschreibt, Bedingungen(im Schüler und seiner Lernumwelt) aufzudecken, die den Lernprozeß hemmen, um so aus der Diagnose direkte Hinweise auf an die jeweiligen Gegebenheiten angepaßte pädagogische Maßnahmen zu erhalten, die zu einer Überwindung der Lernschwierigkeiten führen. Von ebenso weitreichender Bedeutung ist die unter dem Einfluß der modernen Gedächtnisbzw. Informationsverarbeitungstheorien zu beobachtende Tendenz, auch in der Unterrichtspsychologie nicht nur die Leistungs- und Verhaltensebene zu beachten, sondern die den zu beobachtenden Leistungen zugrundeliegenden kognitiven Prozesse zu analysieren, die Lernanforderungen im Sinne der notwendigen kognitiven Prozeßmerkmale zu definieren und Unterrichtsmethoden kogni
tionstheoretisch zu begründen. Die in diesem Heft vorgestellen Arbeiten dokumentieren diese Entwicklungen. Hauptanliegen bei der Zusammenstellung der Beiträge war es, Lehrern aller Schulformen Anregungen zu geben, den Unterricht im Sinne einer Vorbeugung von Lernschwierigkeiten zu gestalten.
In dem einführenden Artikel von Sander wird ein historischer Überblick über psychologische Forschung gegeben, die auf die Mathematikdidaktik Einfluß genommen hat. Aktuelle Forschungsschwerpunkte werden dargestellt, die für den Mathematikunterricht relevant sind. Der Artikel soll auch dem Leser, der mit der aktuellen psychologischen Forschung weniger vertraut ist, ermöglichen, die folgenden Beiträge theoretisch einordnen zu können.
Niegemann zeigt an mehreren Beispielen Möglichkeiten fehleranalytischer Vorgehensweisen auf und diskutiert sie im Hinblick auf ihre praktischen Implikationen.
Lorenz skizziert einen Ansatz zur Beschreibung der für das Lernen arithmetischer Grundoperationen notwendigen kognitiven Schritte, auf dem er ein diagnostisch-therapeutisches Vorgehen in Einzelsitzungen stützt, und demonstriert dieses an Fallbeispielen.
Kornmann und Schäffler beschreiben ein Modell zur Diagnose individueller Lernvoraussetzungen, das auf der Ermittlung des Niveaus der mentalen Repräsentation der Aufgabenstellung beruht. Am Beispiel der Analyse der kognitiven Anforderungen einfacher Kopfrechenaufgaben wird gezeigt, wie bei diesem Vorgehen der Lehr-Lernprozeß systematisch gesteuert werden kann.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988
Binstadt und Michelsen zeigen am Beispiel einer rationalen Analyse von Sachaufgaben, wie die kognitiven Anforderungen von Lehrzielen offengelegt werden können, und wie aufgrund solcher Analysen die Unterrichtsplanung sowie die Planung remedialer Maßnahmen optimiert werden kann.
Arbinger beschäftigt sich mit der Frage, welchen Stellenwert verschiedene Aspekte von Wissen(semantisches Wissen, schemabezogenes Wissen, prozedurales Wissen) im Prozeß der Lösungsfindung von Sachaufgaben haben. In den dargestellten Experimenten werden Methoden zur Erfassung dieser Wissenskomponenten erprobt, und aus den Ergebnissen werden Vorschläge für die Unterrichtsgestaltung abgeleitet.
Schneider und Hasselhorn diskutieren in ihrem Aufsatz, inwiefern die Stimulierung metakognitiver Aktivitäten im Unterricht(Reflexion sowie Steuerung der eigenen Denktätigkeit) das Verständnis mathematischer Probleme fördern kann. Sie machen auch Vorschläge, wie man Schülern metakognitive Strategien lehren kann.
Masendorf setzt sich anhand von Untersuchungsergebnissen zum computergestützten Rechenunterricht mit der Angemessenheit unterschiedlicher Bezugsnormen bei der Leistungsbeurteilung aus sonderpädagogischer Sicht auseinander.
Vanecek und Bauer stellen anhand von Unterrichtsbeispielen das sogenannte Wiener Unterrichtsmodell vor, das zu seiner Grundlegung neben ausgewählten Aspekten der Lern- und Gedächtnispsychologie Erkenntnisse der neueren neuropsychologischen Forschung heranzieht. Elisabeth Sander