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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
67
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Editorial

Während die psychologische Forschung viele Jahrzehnte hindurch nur wenige oder relativ allgemein gehaltene Hinwei­se für den Mathematikdidaktiker bereit­stellte, hat sich dies in den letzten 20 Jah­ren geändert. Eine zunehmend größere Zahl von Psychologen und an psycholo­gischer Forschung interessierter Pädago­gen beschäftigt sich eingehend mit Fra­gen des Unterrichts. Von entscheiden­der Bedeutung für eine Theorie des Ma­thematikunterrichts ist im Zuge dieser Entwicklung einmal die in der pädagogi­schen Psychologie zu beobachtende Ab­lösung eines Fähigkeits- und normorien­tierten Diagnosemodells durch ein pro­zeßdiagnostisches Vorgehen. Das bedeu­tet, daß man der Diagnose in der päda­gogischen Praxis nicht nur eine Selek­tions- oder Zuordnungsfunktion(z.B. Einschulung in eine bestimmte Schul­form) zuspricht, sondern ihr auch die Aufgabe zuschreibt, Bedingungen(im Schüler und seiner Lernumwelt) aufzu­decken, die den Lernprozeß hemmen, um so aus der Diagnose direkte Hinwei­se auf an die jeweiligen Gegebenheiten angepaßte pädagogische Maßnahmen zu erhalten, die zu einer Überwindung der Lernschwierigkeiten führen. Von ebenso weitreichender Bedeutung ist die unter dem Einfluß der modernen Gedächtnis­bzw. Informationsverarbeitungstheorien zu beobachtende Tendenz, auch in der Unterrichtspsychologie nicht nur die Leistungs- und Verhaltensebene zu be­achten, sondern die den zu beobachten­den Leistungen zugrundeliegenden kog­nitiven Prozesse zu analysieren, die Lern­anforderungen im Sinne der notwendi­gen kognitiven Prozeßmerkmale zu defi­nieren und Unterrichtsmethoden kogni­

tionstheoretisch zu begründen. Die in diesem Heft vorgestellen Arbeiten doku­mentieren diese Entwicklungen. Haupt­anliegen bei der Zusammenstellung der Beiträge war es, Lehrern aller Schulfor­men Anregungen zu geben, den Unter­richt im Sinne einer Vorbeugung von Lernschwierigkeiten zu gestalten.

In dem einführenden Artikel von Sander wird ein historischer Überblick über psy­chologische Forschung gegeben, die auf die Mathematikdidaktik Einfluß genom­men hat. Aktuelle Forschungsschwer­punkte werden dargestellt, die für den Mathematikunterricht relevant sind. Der Artikel soll auch dem Leser, der mit der aktuellen psychologischen Forschung weniger vertraut ist, ermöglichen, die folgenden Beiträge theoretisch einord­nen zu können.

Niegemann zeigt an mehreren Beispielen Möglichkeiten fehleranalytischer Vorge­hensweisen auf und diskutiert sie im Hinblick auf ihre praktischen Implika­tionen.

Lorenz skizziert einen Ansatz zur Be­schreibung der für das Lernen arithmeti­scher Grundoperationen notwendigen kognitiven Schritte, auf dem er ein dia­gnostisch-therapeutisches Vorgehen in Einzelsitzungen stützt, und demonstriert dieses an Fallbeispielen.

Kornmann und Schäffler beschreiben ein Modell zur Diagnose individueller Lernvoraussetzungen, das auf der Ermitt­lung des Niveaus der mentalen Reprä­sentation der Aufgabenstellung beruht. Am Beispiel der Analyse der kognitiven Anforderungen einfacher Kopfrechen­aufgaben wird gezeigt, wie bei diesem Vorgehen der Lehr-Lernprozeß systema­tisch gesteuert werden kann.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988

Binstadt und Michelsen zeigen am Bei­spiel einer rationalen Analyse von Sach­aufgaben, wie die kognitiven Anforde­rungen von Lehrzielen offengelegt wer­den können, und wie aufgrund solcher Analysen die Unterrichtsplanung sowie die Planung remedialer Maßnahmen op­timiert werden kann.

Arbinger beschäftigt sich mit der Frage, welchen Stellenwert verschiedene Aspek­te von Wissen(semantisches Wissen, schemabezogenes Wissen, prozedurales Wissen) im Prozeß der Lösungsfindung von Sachaufgaben haben. In den darge­stellten Experimenten werden Metho­den zur Erfassung dieser Wissenskompo­nenten erprobt, und aus den Ergebnis­sen werden Vorschläge für die Unter­richtsgestaltung abgeleitet.

Schneider und Hasselhorn diskutieren in ihrem Aufsatz, inwiefern die Stimulie­rung metakognitiver Aktivitäten im Un­terricht(Reflexion sowie Steuerung der eigenen Denktätigkeit) das Verständnis mathematischer Probleme fördern kann. Sie machen auch Vorschläge, wie man Schülern metakognitive Strategien leh­ren kann.

Masendorf setzt sich anhand von Unter­suchungsergebnissen zum computerge­stützten Rechenunterricht mit der Ange­messenheit unterschiedlicher Bezugsnor­men bei der Leistungsbeurteilung aus sonderpädagogischer Sicht auseinander.

Vanecek und Bauer stellen anhand von Unterrichtsbeispielen das sogenannte Wiener Unterrichtsmodell vor, das zu seiner Grundlegung neben ausgewählten Aspekten der Lern- und Gedächtnis­psychologie Erkenntnisse der neueren neuropsychologischen Forschung heran­zieht. Elisabeth Sander