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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Elisabeth Sander ­

Aspekte einer Psychologie des Mathematikunterrichts

ruf kamen, versuchten andererseits eine Reihe von Psychologen, diese zu verbes­sern. Im Vordergrund stand dabei die Frage nach der relativen Schwierigkeit von arithmetischen Problemen. Man er­hoffte sich dabei Hinweise für einen op­timalen Aufbau von Mathematiklehrbü­chern. So stellte man z.B. fest, daß Sub­traktionsaufgaben schwieriger sind als Additionsaufgaben, oder daß das Addie­ren größerer Zahlen schwieriger ist als das von kleineren.(Z.B. Chapp 1924; Wheeler 1939; vgl. Resnick& Ford 1981). Eine Reihe von Untersuchungen befaßte sich auch mit der Frage, welche Faktoren die Schwierigkeit von Textauf­gaben bestimmen(Brownell& Stretch 1931; Hydle& Clapp 1927). Hier sind auch die Arbeiten von Loftus& Suppes (1972) zu nennen, die in neuerer Zeit zu dieser Frage Untersuchungen durchführ­ten, in denen sie an die assoziationspsy­chologische Forschungstradition an­knüpften und die Schwierigkeiten nach demKomplexitätsgrad der Aufgabe bestimmten.

Ausgehend von dem Grundgedanken, daß Übung für den Erwerb von Rechen­fähigkeiten wichtig ist, stellte sich auch die Frage nach der optimalen Verteilung von Übungen(Buswell 1930; Repp 1935).

Wenn auch die Assoziationspsychologie mit den dargestellten Untersuchungen der Mathematikdidaktik wichtige Anre­gungen gegeben hat, bleiben doch viele Fragen offen. So bietet sie keine Erklä­rung für die empirisch gewonnenen Schwierigkeitsgrade von Aufgaben oder für die beobachtete Wirksamkeit von Übungsformen. Und wenn man die Ziele des Mathematikunterrichts nicht auf das Einüben von Rechenfertigkeiten be­schränken will, bleibt vor allem die Fra­ge nach der Bedeutung des Erwerbs von Automatizität bei Rechenroutinen für das Lösen mathematischer Probleme.

Beiträge der Gestaltspsychologie

Auch die deutsche Gestaltpsychologie hat sich am Rande mit Problemen

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beschäftigt, die den Mathematikunter­richt betreffen. Eine grundlegende Er­kenntnis der Gestaltpsychologen war die, daß es eine natürliche Tendenz in der Wahrnehmung gibt, die Wahrneh­mungsinhalte zu strukturieren. Die Ge­staltpsychologen nehmen an, daß das Denken in ähnlicher Weise strukturiert und organisiert ist. Aus dieser Annahme läßt sich wiederum folgern, daß das Lö­sen eines Problems durch den jeweiligen Kontext beeinflußt wird. Wie Köhler (1925) am Beispiel seiner berühmten Af­fenversuche demonstrierte, ist das Ent­scheidende beim Lösen eines Problems die Einsicht in die Problemstruktur. Die­ses häufig plötzlich auftretende Verste­hen wird als Folge einer Umstrukturie­rung von Problemelementen interpre­tiert, die dadurch in einem neuen Kon­text gesehen werden.

Was die gestaltpsychologische Betonung von Struktur im menschlichen Denken für den Unterricht bedeutet, kommt be­sonders gut in den Arbeiten von Wert­heimer(1945) zum Ausdruck. Er unter­suchte die Denkprozesse von Kindern bei der Lösung von Aufgaben im Mathe­matikunterricht. Dabei war er in erster Linie daran interessiert, das sogenannte produktive Denken, das auf der Ein­sicht in die Struktur eines Problems ba­siert, zu demonstrieren. So versuchte er z.B. anhand seines bekannten Parallelo­grammproblems die Operationen pro­duktiven Denkens offenzulegen.

Kinder haben dabei die Fläche eines Parallelogramms zu berechnen, bei dem das Lot außerhalb der Grundlinie auf­trifft, nachdem sie zunächst nur Flä­chenberechnungen bei Parallelogram­men durchführten, bei der das Lot auf der Grundlinie steht.

Wertheimer wollte mit seinem Versuch zeigen, daß Kinder ein Problem verste­hen müssen, um es lösen zu können; die bloße Anwendung einer Regel genüge nicht. Ähnlich wie Browning(1928) for­derte er deshalb, daß Algorithmen im­mer im Kontext der ihnen zugrundelie­genden Struktur gelehrt werden sollen. Während sich Wertheimer auf die Struk­turen, die mathematischen Problemen zugrundeliegen, konzentrierte, lenkte Duncker(1945), ein Schüler Werthei­

mers, sein Augenmerk auf die Strate­gien, die zur Lösung eines Problems ein­gesetzt werden. Dabei beschrieb er den Problemlöseprozeß als eine Folge von Schritten, die zwischen dem Erkennen eines Problems und seiner Lösung lie­gen. Seine Versuchspersonen waren Er­wachsene, die er bei der Lösung von ma­thematischen und praktischen Proble­men beobachtete. Außerdem wies er sie an, ihren gedanklichen Lösungsweg laut zu verbalisieren. Aufgrund dieser Proto­kollelauten Denkens* konnte er ver­

schiedene typische Lösungsstrategien auffinden(Konfliktanalyse, Zielanalyse, Materialanalyse).

Die Arbeiten Wertheimers und Dunckers sind zwar relevant für kognitives Lernen und Lehren, beziehen sich aber kaum auf Unterrichtsprozesse im engeren Sinn. Katona(1947), ebenfalls ein Vertreter der Gestalttheorie, versuchte dagegen, Unterrichtsmethoden sowohl aus der Gestalttheorie einsichtiges Lernen als auch der damals aktuellen behaviori­stischen Lerntheorie Auswendiglernen abzuleiten und ihre Effektivität expe­rimentell zu überprüfen.

In seinen bekannten Experimenten wur­den drei Gruppen drei verschiedene In­struktionen gegeben, eine Reihe von Zahlen zu lernen. Es zeigte sich, daß die Gruppe, die es aufgrund der Instruktion am leichtesten hatte, das Prinzip der Zahlenreihe zu entdecken, sich die Zah­lenreihe am besten merken konnte. Die­se Gruppe war, im Gegensatz zu den an­deren, auch noch nach einer Woche in der Lage, die Zahlenreihe richtig wieder­zugeben.

Nach Katona(1947) beweist das Ergeb­nis dieser Experimente die Überlegen­heit einsichtigen Lernens. Die Bedeu­tung der genannten Arbeiten für die Mathematikdidaktik ist unverkennbar, wenn man die Lehrziele nicht auf das automatische Anwenden auswendig ge­lernter Routinen beschränken will. Die Gestalttheoretiker haben allerdings den Prozeß der Einsicht nicht analysiert und geben nur vage und miteinander nicht in Beziehung stehende Hinweise, wie die Einsicht in die Problemstruktur erleich­tert werden kann.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988