Elisabeth Sander+ Aspekte einer Psychologie des Mathematikunterrichts
Neuere Entwicklungen
Nach dem 2. Weltkrieg beeinflußten einerseits die Arbeiten J. Bruners(1964), der die Theorie Piagets(1970) aufgriff und in enger Verbindung mit Vertretern der„Neuen-Mathematik“-Bewegung stand, die Mathematikdidaktik. Andererseits ist die seit Beginn der 60er Jahre laufend weiter entwickelte Lernhierarchietheorie Gagnes(1962) von hoher Relevanz für den Mathematikunterricht. Seit etwa 10 bis 20 Jahren geben die Arbeiten von„kognitiv‘‘ orientierten Psychologen wichtige Impulse für eine Unterrichtstheorie des mathematischen Gegenstandsbereiches.
Piaget, Bruner und die Neue Mathematik
Anders als die Gestaltpsychologen, die sich auf den aktuellen Problemlöseprozeß konzentrierten, interessierte sich Jean Piaget(1964) für die Entwicklung des Problemlösens vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter. Er stellt die Entwicklung des Denkens als eine Entwicklung von Strukturen dar, die sich aus einfachsten Formen der Umweltbegegnung(z.B. Saugen, Greifen) zu immer komplexeren und beweglicheren Formen(z.B. abstrakte Begriffe) der Umweltbewältigung entwickeln. Zur Erklärung des Entwicklungsfortschrittes von einer Strukturstufe zur nächsthöheren zieht Piaget des Konzept der Äquilibration(Gleichgewichtszustand) heran. Kann ein Problem mit Hilfe vorhandener Schemata oder Begriffe nicht gelöst werden, kommt es zur Erfahrung eines Ungleichgewichts(zwischen Person und Umwelt) bzw. eines Widerspruchs oder kognitiven Konflikts. Damit wird ein Impuls zur Wiederherstellung des Gleichgewichts gegeben, was durch Kombination und Veränderung von Schemata erreicht werden kann. Nach Piaget ist Entwicklung als selbstkonstruktiver Prozeß einer Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt konzipiert. Er glaubt, daß die Äquilibrationsprozesse, die zum Aufbau immer komplexerer Strukturen führen, ohne Anleitung vollzogen werden. Der
Lehrer hätte demnach nur die Aufgabe, Gegenstände und Probleme anzubieten, die dem jeweils erreichten Strukturniveau der Intelligenz entsprechen. In den 70er Jahren hat man allerdings versucht, Piagets Theorie lerntheoretisch zu interpretieren(Montada 1970). Tatsächlich konnte auch nachgewiesen werden, daß sich durch Lernanordnungen, die aus Piaget-Experimenten abgeleitet wurden, die Beweglichkeit des Denkens fördern und Strukturveränderungen der intellektuellen Entwicklung beschleunigen lassen(Sander 1978).
Die entscheidende pädagogische Konsequenz aus der Theorie Piagets ist aber nicht die Übertragung von Piaget-Versuchen in den Unterricht, sondern die Vermeidung unverstandener Aufnahme dargebotener Lehrinhalte: Wer Äquilibrationsprozesse einleiten will, muß Konflikte induzieren.
Dies kann dadurch geschehen, daß der Lehrer ein Problemangebot vorgibt, das zu Lösungsversuchen führt, die wiederum Anlaß geben, den Schüler mit Alternativen und gegenteiligen Meinungen zu konfrontieren. Der Schüler muß deshalb seine Lösungsversuche begründen, über Implikationen nachdenken und kommt so zu einer Klärung der Problemlage. Dies gibt Anstöße zur Elaboration einer Lösung(Aebli 1963) und damit im Sinne Piagets zur Reorganisation des kognitiven Systems(Montada 1987). Während die Theorie Piagets sich unter diesem Aspekt nur in einer allgemeinen Unterrichtsempfehlung niederschlägt, hatte sie über eine teilweise Resorption durch Bruner(1964) eine sehr spezifische und nachhaltige Wirkung auf die Mathematikdidaktik. Ausgehend von Piaget(1964), der annimmt, daß sich die Begriffsbildung im Laufe des Entwicklungsprozesses als Rekonstruktion von Fakten und Beziehungen infolge der Interaktion und aktiven Manipulation mit der Umwelt vollzieht, konzentrierte sich Bruner auf die Frage, in welcher Weise die Resultate dieser aktiven Auseinandersetzung im Gedächtnis repräsentiert werden, wobei er zwischen drei Repräsentationsformen unterscheidet, der enaktiven, der ikonischen und der symbolischen(Bruner 1964). Diese Repräsentationsformen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988
werden ähnlich wie bei Piaget als im Entwicklungsprozeß aufeinander aufbauend gesehen. Anders als Piaget sieht Bruner in dieser Abfolge auch ein Prinzip, das man für den Unterricht nutzen kann. Er geht davon aus, daß wenn sich die Entwicklung in dieser Reihenfolge volllzieht, es sinnvoll sei, neue Begriffe auch in dieser Reihenfolge zu lehren. Demnach müßte aktives Umgehen mit konkretem Material, das die entsprechende(enaktive) Begriffsstruktur repräsentiert, die ikonische(vorstellungsmäßige) Repräsentation erleichtern, und diese wiederum die symbolische Repräsentation.(Ähnliche Annahmen findet man auch bei Vertretern der russischen Psychologie, wie z.B. Galparin 1969. Vgl. die Arbeit von Kornmann& Schäffler in diesem Heft). Bruner arbeitete eng mit dem Mathematikdidaktiker Dienes(1960) zusammen, der ein Vertreter einer strukturorientierten Mathematikdidaktik war. Diese „Neue-Mathematik‘“-Bewegung in den USA hatte sich unter dem Eindruck des Sputnikschocks Ende der 60er Jahre zum Ziel gesetzt, die Mathematikkenntnisse von Schülern zu verbessern. Im Zuge dieser Bewegung wurden mehrere Curriculumreformen durchgeführt. Angestrebt wurde ein einsichtiges Lernen, das durch.die Betonung mathematischer Strukturen im Unterricht erreicht werden sollte. Zu diesem Zweck wurde in den Primarstufenunterricht Material eingeführt wie z.B. das von Montessori (1964), das durch seinen Aufbau die Einsicht in Strukturen erleichtern soll. Um speziell die in der natürlichen Umwelt des Kindes nicht vorhandenen mathematischen Strukturen sichtbar zu machen, entwickelte Dienes die„logischen Blöcke“ und schlug in Anlehnung an Bruners Repräsentationsebenen vor, den Unterricht in Form eines sogenannten„Lernzirkels‘‘ durchzuführen(Dienes& Golding 1971).
Auch in der BRD wurden diese Materialien und mit der sogenannten„Mengenlehre‘“ in der Primarstufe auch die Gedanken der„Neuen-Mathematik“‘ in die Schulen eingeführt. Obwohl in einer ganzen Reihe von Experimenten positive Effekte dieser Methode nachgewiesen wurden(Steiner 1973), ist die anfängli
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