Elisabeth Sander 
che Euphorie jedoch großer Skepsis gewichen, vor allem weil nicht explizit nachgewiesen werden konnte, ob die neue Methode tatsächlich auch ein besseres Verstehen mathematischer Strukturen zur Folge hat, und weil sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß das Lehren mathematischer Strukturen nicht die Notwendigkeit der Einübung von Rechenfertigkeiten ersetzen kann; denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese wiederum die Einsicht in komplexe Problemstrukturen erleichtern.(Vgl. Resnick& Ford 1981, S. 123 ff.)
Mastery-learning, Prozeßdiagnostik und die Lernhierarchietheorie
Wesentliche Anregungen für die Gestaltung des Mathematikunterrichts gingen auch von dem Didaktikmodell des zielerreichenden Lernens aus. Dieses Konzept, auch mastery learning genannt, wurde aufbauend auf den Gedanken Carrolls(1973), von Bloom(1976) entwickelt, mit dem Ziel, möglichst vielen Schülern die Lehrzielerreichung, zumindest der Basiscurricula zu ermöglichen (vgl. Torshen 1977). Carroll(1973) geht davon aus, daß sich gute und schwache Schüler in der Lernzeit, die sie zur Bewältigung einer Aufgabe benötigen, unterscheiden. Er schlägt deshalb vor, lernschwachen Schülern mehr Lernzeit zur Verfügung zu stellen. Um die zusätzlich benötigte Lernzeit lernschwacher Schüler zu minimalisieren und damit die Konzeption realisierbar zu machen, entwickelte Bloom(1976) das Prinzip des lückenschließenden Lehrens: Nach Durchlaufen einer Lernsequenz sollen die Lernlücken diagnostiziert und durch pädagogische Maßnahmen aufgefüllt werden.
Mastery-learning erfordert also eine kontinuierliche Messung von Merkmalen, die das Lernen des Schülers beeinflussen, wobei durch die ständige Kontrolle der individuellen Lernfortschritte bzw. der individuellen Lernschwierigkeiten eine an die besonderen Probleme angepaßte Lernhilfe bereitgestellt werden kann. Diese Form der Diagnostik wird als Pro
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Aspekte einer Psychologie des Mathematikunterrichts
zeßdiagnostik oder unterrichtsbegleitende Diagnostik bezeichnet(Pawlik 1976, Barkey 1976).
Anders als klassische Fähigkeits- und Schulleistungstests, dürfen Tests, die den Unterrichtsprozeß diagnostizieren, nicht normorientiert konstruiert sein. Prozeßdiagnostik ist einmal sach- oder kriteriumsorientiert, indem sie kontrolliert, ob ein Lehrziel erreicht ist oder nicht; zum anderen orientiert sich eine unterrichtsbegleitende Diagnose an einer individuellen Bezugsnorm, indem sie den individuellen Lernfortschritt deutlich macht(vgl. den Beitrag von Masendorf in diesem Heft). Prozeßdiagnostik hat demnach die Funktion einer Steuerung des Unterrichtsprozesses(Klauer 1978). Um mit möglichst wenig Lernaufwand sicherzustellen, daß die für die Lehrziele einer Unterrichtseinheit notwendigen Lernvoraussetzungen erworben werden, empfiehlt Bloom(1976) einen kumulativen, nach der Komplexität der Lehrziele geordneten Unterrichtsaufbau.
Als eine wichtige theoretische Grundlage sowohl für die Entwicklung kriteriumsorientierter Tests als auch für die Forderung eines kumulativ organisierten Unterrichts kann die Lernhierarchietheorie Gagnes(1973) angesehen werden(vgl. Sander 1981).
R. Gagne(1973) versuchte Anfang der 60er Jahre, den damaligen Kenntnisstand der experimentellen Lernpsychologie für eine Verbesserung von Unterricht zu nutzen. Im Laufe der Jahre hat die Gagnesche Theorie zwar eine Reihe von Änderungen erfahren, Gagne€ hat sich aber immer auf den Aufbau sogenannter intellektueller Fähgkeiten konzentriert, weil er der Ansicht ist, daß die intellektuelle Entwicklung primär das Ergebnis allmählichen kumulativen Lernens intellektueller Fähigkeiten darstellt. Bei intellektuellen Fähigkeiten, die in der Schule gelernt werden sollen, handelt es sich in erster Linie um das Anwendenkönnen von Begriffen und Regeln, also um Fähigkeiten, die für den Mathematikunterricht besonders relevant sind. Gagne grenzt die intellektuellen Fähigkeiten von dem Lehrinhalt verbalen Wissens ab. Verbales Wissen, z.B.
Sachverhalte aus der Geschichte, kann nach Gagne an beliebigen Stellen im Unterricht vermittelt werden.
Intellektuelle Fähigkeiten dagegen müssen schrittweise aufgebaut werden, ausgehend von wenig komplexen zu den komplexeren(z.B. zuerst Grundrechenarten, dann Bruchrechnen).
Eine nach der Komplexität geordnete Abfolge intellektueller Fähigkeiten wird Lernhierarchie genannt.
Wenn man auch im allgemeinen davon ausgehen kann, daß der systematische Aufbau von Fähigkeiten entlang einer Lernhierarchie für viele Schüler eine empfehlenswerte Unterrichtsmethode ist(vgl. Sander 1986; Sander, BartelsBerger 1987), hat der Ansatz doch Grenzen. Die Diagnose von Lernlücken entlang einer Lernhierarchie berücksichtigt nur die Leistungsebene. Schülerfehlern liegt aber häufig eine innere Logik zugrunde(z.B. Ginsburg 1977, vgl. die Beiträge von Lorenz und Niegemann in diesem Heft). Es reicht dann oft nicht aus, die Fehllösung festzustellen und den richtigen Lösungsweg vorzuzeigen, es ist vielmehr notwendig, die dem Fehler zugrundeliegenden kognitiven Prozesse aufzudecken, um Lernhilfen einsetzen zu können, die die Einsicht in die Problemstruktur und so auch das Entdecken der richtigen Lösungsstrategie ermöglichen.
Kognitiv orientierte Ansätze
Erst in neuester Zeit wird unter dem Einfluß der modernen Gedächtnispsychologie, die Denken und Problemlösen auf der Grundlage von Modellen der Informationsverarbeitung interpretiert, in der Unterrichtspsychologie versucht, sowohl die Leistungsebene als auch die der Leistung zugrundeliegenden kognitiven Prozesse zu analysieren und beide Ebenen miteinander in Beziehung zu setzen.
Zur Erklärung der menschlichen Informationsverarbeitung wird gewöhnlich angenommen, daß es wenigstens zwei verschiedene Gedächtnisspeicher gibt, den sogenannten Kurzzeitspeicher bzw. das Arbeitsgedächtnis, und den Langzeitspeicher. Zunächst wird die Informa
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988
