Neue Wege in der pädagogischen Diagnostik: Fehleranalyse und Fehlerdiagnostik
im Mathematikunterricht
Von Helmut M. Niegemann
Effektive remediale Maßnahmen setzen eine Diagnose individueller Defizite und Schwierigkeiten voraus. Indikatoren spezifischer Defizite im Mathematikunterricht sind systematische Fehler, jedoch können unterschiedliche Defizite zu gleichen manifesten Fehlern führen. Entscheidend ist daher die Identifikation der jeweiligen ‚„Fehlerstrategie‘, d.h. der Lokalisation der Fehlerursache im Prozeß der Lösung entsprechender Aufgaben. Möglichkeiten und Entwicklungstrends fehleranalytischer Vorgehensweisen werden an mehreren Studien aufgezeigt. Für die Diagnose systematischer Fehler auf der Grundlage von Aufgabenlösungen wird die Konstruktion ‚‚fehlersensitiver‘“ lehrzielorientierter Tests vorgeschlagen. Weitere Fortschritte im Bereich fehlerdiagnostischer Verfahren werden aus Arbeiten zur Entwicklung „intelligenter tutorieller Systeme“ erwartet.
Efficient remedial measures in mathematical instruction require a diagnosis of the individual difficulties. Systematical errors are indicators for specific difficulties, but different deficiencies may cause the same kind of errors. So, it is mostly important to identify the underlying„error strategy‘. Several empirical studies show possibilities and trends in the development of error analysis. A procedure for the construction of failure-sensitive criterion-referenced tests is proposed,
Theoretical and practical advances in error analyses could derive from the development of intelligent tutorial systems.
Fehlerdiagnostik als Grundlage remedialen Lehrens
Die wohl wichtigsten Variablen für die Vorhersage des Lehrerfolgs— Qualität des Unterrichts und Qualität des Vorwissens— sind verknüpft durch remediales Lehren: Als wesentliche Bestandteile guten Unterrichts sichern remediale Maßnahmen jeweils die kognitiven Voraussetzungen für die Vermittlung weiterer Lehrinhalte. Es liegt auf der Hand, daß derartige„Kurskorrekturen‘‘ umso wirksamer sein können, je spezifischer und individueller sie auf die Defizite und Schwierigkeiten jedes einzelnen Schülers abgestimmt werden.
Um dies zu erreichen, muß die Art der Schwierigkeit oder des Defizits möglichst eindeutig bestimmt werden. Prin
zipiell sind kontentvalide lehrzielorientierte Tests(LOT) hierzu geeignet, vorausgesetzt, die entsprechenden Lehrziele wurden a) hinreichend detailliert analysiert und b) jede Teilstichprobe von Aufgaben ist groß genug, um Aussagen über das Erreichen oder Nicht-Erreichen des entsprechenden Teillehrziels zu erlauben.
Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht ohne weiteres gegeben: Zum einen läßt sich der unter fehlerdiagnostischem Aspekt notwendige Auflösungsgrad der Lehrstoffanalyse nicht immer a priori bestimmen, zum anderen ist die Zahl der je Lehrziel durchführbaren Tests bzw. Testaufgaben praktisch eng begrenzt. Die Konstruktion„fehlersensitiver“ lehrzielorientierter Tests ist allerdings nicht die einzige Möglichkeit feh
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988
lerdiagnostischen Vorgehens und nicht für alle diagnostischen Zwecke optimal: Fehler in Problemlöseprozessen lassen sich aus den Daten lehrzielorientierter Tests oft nur indirekt erschließen. Gerade bei mathematischen Lehrstoffen können aber unterschiedliche„„Fehlerstrategien‘“ zu den gleichen fehlerhaften Aufgabenlösungen führen.
Protokolle„lauten Denkens‘‘ oder die Analyse schriftlich oder mündlich dokumentierter Lösungswege können hier zumindest eine wichtige Ergänzung darstellen, vorausgesetzt, ein konsistenter theoretischer Rahmen liefert angemessene Analysekategorien.
Im folgenden werden an mehreren Beispielen Möglichkeiten und Entwicklungstrends fehleranalytischer Vorgehensweisen aufgezeigt und anschließend im Hin
77