Jens H. Lorenz+
Einzelfallarbeit bei Kindern mit Rechenschwierigkeiten
gen kognitiven Schritte skizziert werden (2.), auf dem das diagnostisch-therapeutische Vorgehen in Einzelsitzungen für Schüler mit Rechenstörungen beruht(3. und 4.). Die Fallbeispiele mögen verdeutlichen, an welchen Stellen die Schwierigkeiten entstehen, nomothetische Aussagen über Lernprozesse mit den idiosynkratischen Besonderheiten des Einzelfalles in Einklang zu bringen (vgl. Lorenz 1982, 1983).
Modell des Lernens arithmetischer Grundoperationen
Das folgende Modell ist an kein konkretes Schulbuch oder länderspezifische Rahmenrichtlinien gebunden, sondern orientiert sich am üblichen Vorgehen in den Eingangsklassen. Die Tabelle 1 faßt das unterrichtlich-methodische Prozedere sowie die vom Schüler erwarteten kognitiven Fähigkeiten, mögliche Störungen und ihre Genese so wie häufige Fehlermuster zusammen. Es handelt sich, das muß betont werden, bei der Tabelle nicht um ein verkürztes Diagnose-Modell. Es stellt lediglich die Erfahrungswerte zusammen, in welchen Phasen des Unterrichts bei welchen Kindern bestimmte Fehlertypen zu erwarten sind, wenn die Fähigkeitsstörungen bekannt sind. Dem ist aber i.d.R. nicht so: Die Schülerfehler bilden gemeinhin den ersten Anlaß, um nach lernhemmenden Faktoren auf seiten des Schülers, des Unterrichts, des weiteren sozialen Umfeldes bzw. deren Interaktion zu suchen. Die Tabelle versteht sich als ersten Schritt im Hypothesenbildungsprozeß. Die angegebenen Testverfahren lesen sich dementsprechend cum grano salis und sind mit sehr viel Behutsamkeit, lediglich als hypothesenstützende Datenbasis anzuwenden.
Bei dem Modell wird, entsprechend der unterrichtlichen Vorgehensweise, von einem stufenweisen Aufbau der Zahl- und Operationsbegriffe ausgegangen, die jeweils stark an(evtl. abstrakte) Anschauungen gebunden sind, die wiederum in konkreten Handlungen verwurzelt bleiben. Bei rechengestörten Kindern ist da
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her, im Gegensatz zu Schülern mit einer LRS, häufiger eine Schwäche des visuellen Operierens und dessen Gedächtnisses beobachtbar. Diese Schwäche findet sich zwar auch im außerarithmetischen Bereich(Spalte 7 der Tabelle 1), wird dort aber von den Eltern leicht übersehen oder als Besonderheit des Kindes abgetan.
Diagnostisches Vorgehen
Allgemeine Prinzipien
Sowohl die Ursachen von Lernstörungen als auch die Maßnahmen ihrer Behebung sind in einem Feld sozialer Bedingungen eingebettet, so daß in den diagnostischen Prozeß nicht nur das Kind selbst, sondern auch das Umfeld(Eltern, Unterricht) soweit wie möglich einzubeziehen sind(Sander 1981, 1983). Die folgenden Ausführungen beschränken sich aber auf die curricularen und kognitiven Besonderheiten. Der Einsatz standardisierter und informeller Tests ist erst auf der Basis von Hypothesen sinnvoll, wofür die curriculare Eingrenzung der Symptomatik allein, etwa auf Schwierigkeiten mit dem„Kleinen 1* 1‘‘ oder schriftliche Division“, nicht ausreicht. Nun ist die Datenbasis meist schon größer: Dem Lehrer liegen Klassenarbeiten, Arbeitsblätter u.a.m. vor, aus denen sich Fehlercluster ersehen lassen. Trotzdem: Was sich phänotypisch gleicht, muß noch lange nicht gleiche Ursache besitzen (Lorenz 1987), und ähnliche Ursachenbereiche können sich in Lernstörungen unterschiedlichster Art niederschlagen. Aus diesem Grund erscheint ein Screening-Verfahren nicht praktikabel. Was ist, neben den evtl. erkennbaren Fehlermustern beim Lösen von Aufgaben, der Ausgangspunkt für den Hypothesenbildungsprozeß des Lehrers/Therapeuten? Neben den üblichen Sozialdaten und der medizinischen Anamnese, die(auch unangemessen) das Diagnostikerurteil beeinflussen, weist die Tabelle 1 die erste Suchrichtung auf. Die darauf fußenden Hypothesen haben sich im folgenden remedialen Prozeß aber erst zu bewähren und müssen(oft) zurückgewiesen wer
den, wenn neue Daten des Einzelfalles dies erfordern. Insofern kommt der Verhaltensbeobachtung besondere Bedeutung zu. Relevant ist das Lernverhalten des Schülers in Problemlösekontexten, wozu eigens Lehrsituationen geschaffen werden müssen(Witzlack 1977). Informelle Tests können hierbei eingesetzt werden und sind normorientierten Verfahren aufgrund ihrer Instruktionsnähe und Individualisierungsmöglichkeit vorzuziehen, ersetzen aber die Verhaltensbeobachtung nicht. Diagnostisch bedeutsam sind nicht die richtigen Lösungen des Schülers, sondern die von ihm verwendeten suboptimalen resp. falschen Wege und Strategien. ‚In der diagnostischen Situation soll nicht mehr die reine Konstatierung des augenblicklichen Entwicklungsstandes der geistigen Fähigkeiten im Vordergrund stehen, sondern in der diagnostischen Untersuchung muß der reale, unter Einwirkung des Erwachsenen vonstatten gehende Lernprozeß, der die Grundlage für die Entwicklung geistiger Fähigkeiten darstellt, simuliert bzw. modelliert werden‘‘(Guthke 1972, 1987). Damit werden der diagnostische und therapeutische Prozeß verschachtelt, die Diagnose ergibt sich aus dem „lauten Denken“ des Kindes bei der Bearbeitung einer Lernaufgabe, an die sich eine neue, auf den Ergebnissen der vorangehenden Lösungsprozesse aufbauende Lehr-Lern-Situation anschließt.
Spezielle Diagnostik
Die Tabelle 1 stellt einen ersten diagnostischen Ausgangspunkt dar, allerdings ist die Vorgehensweise des Lehrers/Therapeuten umgekehrt, muß er doch von den Fehlern der Schüler auf die entsprechende Verursachung schließen. Für die Intervention ist als erstes eine detaillierte Beschreibung der für die Lösung der Aufgabe erforderlichen a) allgemeinen kognitiven Fähigkeiten(z.B. Gedächtnisspanne,-inhalte, Anschauungsleistung u.ä.) und b) der curricularen Vorkenntnisse(z.B.„basic facts‘, Algorithmen) notwendig. Erst darauf fußend läßt sich, mit dem gewünschten Lösungsweg kontrastierend, eine Beschreibung des Fehl
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988