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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Jens H. Lorenz ­

weges erstellen(Wie hat der Schüler ge­rechnet?). Diese Erklärung umfaßt die Kenntnis des vorangehenden Unterrichts, der dort verwendeten Modelle und Ver­anschaulichungsmittel.

Beispiele: Mark, 2. Klasse, rechnet 7+ 20 = 26. Er sollte wissen, daß(1) die Addi­tion kommutativ ist, wofür ein internes, abstraktes Anschauungsbild notwendig ist(7+ 20= 20+ 7). Er sollte auch wis­sen, daß(2) bei Addition mit Zehner­zahlen eine Gesetzmäßigkeit besteht (10+7, 20+7, 30+7,...). Es könnte sein, daß sein Fehler auf Unkenntnis von(2) beruht und er dann auf die ihm verbleibende Strategie des Zählens zu­rückgefallen ist, sich aber um 1 verzählt hat(häufig beobachtbarer Fehler, da hier die20* mitgezählt wird: 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26!). Tatsächlich ergibt sich aber, daß Mark rechnete 7+20= 7+3+10+6=26: Sein anschauungs­mäßiges Bild der Addition war an die von ihm zuhause benutzteRussische Rechenmaschine gebunden, er rechne­te, wie es der Handlung an der Maschi­ne entsprach, und seine Zehnerzerlegung (10=3+6) war fehlerhaft.(Diagnose: suboptimales Anschauungskorrelat der Addition, insuffiziente Beherrschung des Zahlraums bis 10).

Lars rechnet 6*7=24, 7*9= 36. Diese auf den ersten Blick obskuren Lösungen werden erst verstehbar, wenn man Lars seine Aufgaben vorlesen läßt: Er liest sie richtig, schreibt sie invertiert(Diagnose: Probleme der Raumorientierung i.S. der Lateralität, evtl. auch der visuell-auditi­ven Koordination).

Schwieriger bei Silke, die rechnet: 48 14=42, 48+26= 54. Auch hier gibt erst daslaute Vorrechnen des Kindes Aufschluß: 48 14=48 10+4,48+ 26=...,48+ 20= 68,68+6= 54.(Dia­gnose: Operationsrichtungsänderung bzw. Zehnerübertrag in die falsche Rich­rung: Lateralitäts- bzw. Raumorientie­rungsstörung). Ähnlich auch Bernd: 46+ 8= 45(Inversion) und Simone: 74= 2, die sich nicht verzählt, sondern vor­stellungsmäßig gelöst hatte 74=..., 7-2=5,(5S=2+3)5-2=2: wegge­nommener und übrigbleibender Teil werden verwechselt.

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Einzelfallarbeit bei Kindern mit Rechenschwierigkeiten

Markus, 4. Klasse, rechnete erfolglos im Kopf 7*5+6=... Er konnnte, so er­gab sein eigener Bericht, die Multiplika­tionsreihen nicht auswendig, mußte sie sich additiv ableiten und hatte, als er schließlich bei 7*5=35 angekommen war, die Aufgabe vergessen.(Diagnose: Keine Gedächtnisprobleme aber Ge­dächtnisüberforderung durch ineffizien­te Multiplikationsstrategie).

Häufig imponieren Schüler mit geringer Lesefähigkeit auch mit Schwierigkeiten im arithmetischen Bereich. Hier ist aber zu differenzieren, ob tatsächlich durch die Schrift bedingte Probleme der Sinn­entnahme bestehen oder ob Anschau­ungsdefizite vorliegen, die verhindern, daß sich ein internes Bild des gelesenen Sachverhaltes aufbauen kann: Textauf­gaben sind erst so lösbar. Wie bearbeitet der Leser z.B. die Aufgabe:Die Miete für eine Wohnung beträgt jährlich 5.071,20 DM. Berechne die Monatsmie­te. Erst die interne Repräsentation des Sachverhaltes läßt die Division als not­wendige Operation erkennen, der Text allein, auf dessen Wortwahl sich die Schüler in der Regel verlassen(‚‚weni­ger,‚mehr,mal* etc.), gibt hier kei­nen Anhaltspunkt.

Da das diagnostische Vorgehen notwen­dig von den Fehlern der Schüler ausgeht, das(nomothetische) Wissen über deren Genese aber nicht die Kenntnis um das betreffende Kind einbezieht, sind Fehl­diagnosen eher die Regel als die Ausnah­me.

Sarah, 11 Jahre, besuchte die 4. Klasse einer Sprachbehinderten-Schule; der seit früher Kindheit bestehende Aggramma­tismus war inzwischen behoben, die Wortkenntnis aber noch nicht altersent­sprechend entwickelt. Sarah hatte große Mühe bei sog. Piaget-Aufgaben, konnte nicht sicher angeben, in welcher von zwei Mengen mehr bzw. weniger Ele­mente enthalten waren, konnte bei Rei­hungsaufgaben(Seriation) auf dasmitt­lere Element nicht deuten, für sie wa­ren alle zwischen den außen liegenden Elementendie mittleren. Piaget-Aufgaben geben u.a. Aufschluß über die Entwicklung des Invarianz- und Seriationsbegriffs. So wird beispielswei­se geprüft, ob das Kind die Elementan­

zahl zweier Mengen als gleich erkennt, wenn diese verschiedene räumliche Aus­dehnung und Anordnung haben(weit auseinander gezogen vs. eng gedrängt), d.h. die Anzahl gegenüber Verschiebun­geninvariant bleibt. Oder ob es Ob­jekte, z.B. Holzstangen, der Länge/Grö­ße nach in eine Reihe,Serie, bringen kann, wozu paarweise Vergleiche not­wendig sind(Seriation).

Es handelte sich offenkundig um ein Sprachproblem, und eine entsprechende Therapie schien angezeigt. Erst eine Dia­gnose ihrer visuellen Fähigkeiten i.S. des Gedächtnisses von Bildern und ihrer An­schauung zeigte, daß diese dürftig bis gar nicht entwickelt, diese Schwäche aber durch die offenkundigere Sprachbehin­derung überdeckt war. Sie konnte Men­gen, die vor ihr auf dem Tisch lagen, nicht behalten, wenn diese verdeckt wurden, konnte Längen nicht abschät­zen(Wieviel Schritte bis zur Tür? 3? 10? 100?Wieviel Bleistifte kann ich aneinander legen, bis ich an der Tischkante bin?,,2? 15?). Ihre Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Zahlbegriffs oder gar des Zehnerübertra­ges werden so verständlich, denn arith­metische Operationen sind bei ihr an kein internes Bild gebunden und dann auch in Alltagssituationen oder Text­aufgaben nicht abrufbar.

Therapeutisches Vorgehen

Die remedialen Strategien, die bei Re­chenstörungen zum Einsatz kommen, umfassen i.a. a) curriculare Einheiten, b) psychotherapeutische Verfahren, c) Elternarbeit und d) Lehrerberatung.

Ad a) Hier sind stoffanalytische Beschrei­bungen des Lernstandes des Schülers und seinerLücken notwendig(Tester­gebnisse), seiner Mißkonzeptionen, Al­gorithmusverkürzungen, Fehlermuster etc. Die Planung der Stoffeinheiten schließt die von ihm bevorzugten Strate­gien ein(z.B. vorstellungsgebundenes Vorgehen vs. internales auditives Wie­derholen; materialgebundene Anschau­ung, die der Ausweitung eines mathema­tischen Begriffs im Wege steht). Es ist ei­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988