Jens H. Lorenz
Einzelfallarbeit bei Kindern mit Rechenschwierigkeiten
ne Entscheidung darüber zu treffen, ob die suboptimale Strategie des Schülers (vorübergehend) beibehalten werden kann, oder alternative Strategien und Vorstellungen aufzubauen sind. Sich an dem vorgegebenen Curriculum(Schulbuch) und dort enthaltenen Modellen zu orientieren, ist für einige Schüler eher hemmend. Im Gegenteil ist es im Einzelfall günstiger, einen verkürzten, restringierten Begriff einer arithmetischen Operation oder seiner Verwurzelung in einem insuffizienten Vorstellungsbild persistieren zu lassen, wenn weitergehende Möglichkeiten aufgrund unzureichender Informationsaufnahme und verarbeitung aktuell nicht möglich sind. Dies hat als kalkulierte Konsequenz, daß der Schüler bestimmte Aufgabenklassen nicht bearbeiten kann, d.h. es müssen Absprachen mit dem Lehrer über unterrichtsorganisatorische Maßnahmen getroffen werden(Individualisierung, spezielle Anschauungshilfen, gesonderte Aufgabenblätter, evtl. passagere Nichtbeurteilung von Tests). In Phasen des Aufbaus eines Begriffs kann es notwendig werden, dem Schüler weniger Anschauungsmaterial zur Verfügung zu stellen, ihn sogar dagegen abzuschirmen, um Vorstellungskontaminationen zu vermeiden.
Neben den mathematischen Trainingseinheiten werden spezielle, auf die kognitiven Schwächen des Kindes abgestellte Förderprogramme durchgeführt. Hierfür existiert zwar ein ganzes Arsenal erprobter Verfahren(z.B. Johnson& Myklebust 1971; Frostig 1972; Affolter 1977; Kephart 1977; Ayres 1979; Cruickshank 1981), diese sind aber allgemein, d.h. situations- und aufgabenunspezifisch gehalten. Lernen geschieht aber mit bestimmten Inhalten, und die in einer Situation erworbene Fähigkeit ist vom Kind nicht notwendig auf andere Kontexte hin transferierbar. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, die jeweilige Aufgabenstruktur dieser Programme auf den arithmetischen Bereich zu adaptieren, denn dieser ist schullaufbahnentscheidend und dringend.
Beispiele: Mark wurde die Handhabung der„Russischen Rechenmaschine‘‘ un
tersagt und statt dessen Material mit ebenfalls betonter Dezimal- aber kommutativitätsoffensichtlicher Struktur (Dienes-Blöcke) vorgelegt. Nach der Phase der konkreten Handlungen mußte Mark die Operationen und Handlungen aufmalen, die er mit den Mehr-SystemBlöcken ausführen würde, zuletzt mußte er die(dann vorgestellten) Handlungen nur noch verbal beschreiben. Die Zehnerzerlegung wurde an den Fingern geübt(kein Zählen!), da Mark eine intuitive taktilkinästhetische Erfassung zwar hierfür besaß(7 gezeigte Finger= 3 verdeckte/umgeknickte Finger), sie aber zum visuellen Vorstellungsaufbau bislang nicht verwendete.
Mit Lars wurde an arithmetischem Material und mit Schreibübung die Raumorientierung trainiert(i.S.„Raumlage‘‘ und„Räumliche Beziehung‘‘ nach Frostig 1972). Ebenso mit Silke, die die Richtungen bei mehrfachen Operationen am Zahlenstrahl(für sie gewohnt) auszuführen hatte. Bei Bernd genügte das Üben der Zahlsymbole(Zahlendiktat) und die jeweilige Bestimmung der „Einer‘‘ und„Zehner‘‘, während Simone ein zusätzliches Programm zur visuell
motorischen Koordination(nach Cruick
shank 1981) absolvierte.
Bei Sarah war die Ausbildung ihrer visuellen Fähigkeiten(anschauungsmäßiges Operieren, visuelles Gedächtnis) vorrangig, das rein curriculare Training erschien allein wenig aussichtsreich. Das mit ihr durchgeführte Programm orientierte sich an Frostig(1972; vgl. Frostig & Müller 1981), benutzte aber mehr konkretes Material, Größen-, Längen-, Entfernungs- und Gewichtsabschätzungen, weniger die dort verwendeten ikonischen Darstellungen, die für Sarah erst in einer zweiten Phase brauchbar erschienen.
Bei Markus hingegen konnte eine deutliche Steigerung der Multiplikationsreihenkenntnis dadurch erreicht werden, daß diese nicht mehr„blind‘-abstrakt als verbale Kette gelernt wurden, sondern er sie mit Objekten verband. In seinem Fall eigneten sich die Finger, so daß er, bei der 7er-Reihe z.B. beim kleinen Finger links anfangend, schnell lernte, daß der Mittelfinger links(7*3) 21,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988
der Daumen rechts(7*6)42 darstellt etc. Die Umkehrung(56= Mittelfinger rechts= 7*8) als Propädeutik der Division gelang ebenfalls.
Ad b) Die psychotherapeutischen Verfahren(Spieltherapie, nicht-direktive Therapie, AT, Desensibilisierung, KB, Impulsivitätstraining usw., vgl. Lorenz 1987) sind notwendig, um die meist eingesetzte sekundäre Neurotisierung zu beheben und den Schüler aus dem„Teufelskreis‘‘ Defizite-Lücken-Selbstwertgefühlsminderung-Vermeidung-Lücken ...(Betz& Breuninger 1982) zu befreien. Die curricular-remedialen Interventionen blieben sonst fruchtlos.
Ad c) Die Elternberatung richtet sich i.w. auf die Eltern-Kind-Beziehung, die durch die Rechenschwäche belastet und durch Elternängste verschlechtert ist. Die Elternaufklärung über die Ursachen der Störung hat eine für beide Seiten entlastende Funktion.
In das curriculare Trainingsprogramm werden die Eltern nur selten einbezogen, eher wird ihnen die Mitarbeit, v.a. das tägliche häusliche Beaufsichtigen der Schülerarbeit, untersagt. Zu oft leidet das Kind unter wohlgemeinten Erklärungen, die nur eine verwirrende Methoden- und Modellvielfalt darstellen. Lediglich bei der Ausbildung bestimmter, automatisierter Fertigkeiten wie 1*1, Additions-. und Subtraktionsfakten im Zahlraum bis 20, Zehnerzerlegung 0.ä. werden die Eltern als„Cotherapeuten“‘ einbezogen. D.h. bei der Ausbildung jener Fertigkeiten, die eine gedächtnisentlastende Funktion haben und außerhalb der Einzelsitzungen in kurzen Zeittakten günstiger trainiert werden können, Ad d) Selten ist es notwendig, bei Rechenstörungen das Arsenal gängiger Methoden und Veranschaulichungsmittel um weitere geniale Produkte zu erweitern. Daher beschränkt sich die Lehrerberatung auf Hinweise zu den vom Schüler benutzten Strategien, die im Unterricht aufzugreifen wären. Dies ermöglicht dem Schüler einen Schonraum, ohne als Versager abgestempelt zu sein, und eine Nutzung seiner„Stärken‘“‘.
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