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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Wolfgang Schneider& Marcus Hasselhorn ­

hier anspruchsvolle kognitive Prozesse erforderlich sind, die im herkömmlichen Mathematikunterricht noch viel zu we­nig beachtet worden sind. Seine didakti­sche Empfehlung ging dahin, es nicht beim simplen Einüben von Algorithmen zu belassen, sondern auch begleitende Erkennens- und Entscheidungsleistun­gen gezielt zu fördern. Diese Vorstellung wird auch von einer Reihe amerikani­scher Mathematikdidaktiker geteilt(z.B. Lester 1982; Schoenfeld 1983; Silver 1982). Es reicht demnach nicht aus, le­diglich kognitive Operationen oder Stra­tegien einzuüben, ohne daß den Schü­lern klargemacht wird, wo, wann und warum diese Strategien hilfreich sind. Die bloße Anwendung einer Strategie kann zwar als kognitive Handlung aufge­faßt werden, die Entscheidung darüber, gerade diese und keine andere Strategie zu benutzen sowie die reflexive Kontrol­le und flexible Steuerung der Strategie­ausführung basieren jedoch im wesentli­chen auf metakognitiven Aktivitäten. Wir werden im folgenden genauer darauf eingehen, warum solche metakognitiven Aktivitäten für das Bearbeiten mathema­tischer Probleme nützlich sind und wie sie im Mathematikunterricht sinnvoll als Lernhilfen eingesetzt werden können. Zuvor wollen wir jedoch anhand einiger Beispiele bzw. empirischer Belege auf­zeigen, daß die traditionelle Unterrichts­praxis hinsichtlich solcher metakogniti­ver, d.h. kognitive Operationen steuern­der Prozesse defizitär ist und durch den Einbezug von Ansätzen und Ergebnissen der kognitiven Psychologie(insbesonde­re der Metakognitions- und Problemlö­seforschung) bereichert werden kann.

Fördert die herkömmliche Unterrichtspraxis

dasVerständnis für mathematische Probleme?

Diese provokative Frage wurde von Schoenfeld(1982) aufgeworfen, nach­dem er die amerikanische Unterrichts­praxis beim Lehren von Textaufgaben gründlich analysiert hatte. Ein elementa­res Beispiel mag das Anliegen dieser Kri­

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tischen Anfrage illustrieren. Man stelle sich etwa folgende typische Aufgabe vor: John had eight apples. He gave three to Mary. How many does John have left?. Zur Lösung solcher Aufgaben wird von amerikanischen Grundschullehrern be­vorzugt ein sogenannterSchlüsselwort­Algorithmus antrainiert. Dieser besteht darin, in der Problemformulierung nach syntaktischen und semantischen Hinwei­sen zu suchen, die dem Schüler bei der Entscheidung helfen, welche arithmeti­sche Operation einzusetzen ist. Das Wortleft im genannten Beispiel gibt etwa einen Hinweis darauf, daß die Sub­traktionsregel angemessen ist. Wie Schoenfeld(1982) in eigenen Studien herausfand, führt der Drill in solchen Schlüsselwort-Algorithmen auch zu unerwünschten Ergebnissen. Wenn etwa das mathematische Problem so konstru­iert wurde, daß Addition, Multiplikation oder Division die angemessenen Opera­tionen darstellten, wendete ein großer Prozentsatz der Schüler spontan die Sub­traktionsregel an, sobald im Aufgaben­text das WortJleft auftauchte. Dies ließ sich sogar für den Extremfall de­monstrieren, bei dem die Textaufgabe mitMr. Left begann.

Ein weiteres Beispiel von Schoenfeld (1982) erhärtet ebenfalls die These, daß die übliche Unterrichtspraxis beim Leh­ren der Bearbeitung von Textaufgaben nicht unbedingt die Denkfähigkeiten der Schüler fördert: Auf die Aufforderung hin, ein vorgegebenes Textaufgabenpro­blem mit eigenen Worten verständlich neu zu formulieren, waren dazu nur et­wa 10% der untersuchten Schüler im­stande. Ein ebenso großer Prozentsatz lieferte Informationen, die im völligen Gegensatz zum vorgegebenen Problem standen, während der überwiegende Rest verwirrende Zusatzinformationen an­bot, die eine angemessene Problemlö­sung fast unmöglich machten. Interes­santerweise zeigte sich, daß die haupt­sächlichen Schwierigkeiten der Schüler nicht den Problemlöse-Anteil der Aufga­be(also etwa das Lösen von Gleichun­gen), sondern die Lese-Komponente be­trafen. Am Rande sei hier angemerkt, daß innerhalb der kognitiven Psycholo­gie in jüngster Zeit Prozeßmodelle ent­

Metakognitionen bei der Lösung mathematischer Probleme

wickelt werden, die gleichzeitig Aspekte des Textverständnisses und der Problem­lösung beim Bearbeiten von Textaufga­ben berücksichtigen(vgl. Kintsch& Greeno 1985). Neuere Trainingsprogram­me zur Lösung von Textaufgaben(Der­ry, Hawkes& Tsai 1987) bauen bereits auf solchen Modellen auf.

Die von Schoenfeld(1982) vorgelegten Analysen lassen sich durch Befunde aus Beobachtungsstudien bzw. Interviewstu­dien mit Lehrern ergänzen. Wenn diese Arbeiten auch die von Shavelson(1981) geäußerte Befürchtung, daß amerikani­sche Grundschullehrer den Mathematik­unterricht deshalb zu meiden versuchen, weil sie nicht wissen, wie sie es richtig anpacken sollen, nicht direkt belegen, zeigen sie doch auf, daß in der Regel nur wenige Strategien explizit gelehrt wer­den(vgl. Carr et al. 1987; Moely et al. 1986). Die dabei registrierten Diskre­panzen zwischen den Angaben der Leh­rer und den tatsächlichen Beobachtun­gen im Klassenzimmer lassen sich zu­mindest teilweise darauf zurückführen, daß die Lehrer ein anderes Strategiekon­zept zugrundelegen. So gaben sie oft­mals die Instruktion von arithmetischen Operationen als Beispiel für Strategien an, während die psychologischen Be­obachter im Klassenzimmer nur dann explizite Strategie-Instruktion notierten, wenn allgemeinere Regeln eingeführt wurden, die weniger den spezifischen In­halt einer Unterrichtsstunde als vielmehr Verallgemeinerungsmöglichkeiten betra­fen(Clift, Ghatala& Naus 1987). Ange­sichts einer solchen Vernachlässigung di­rekter Strategievermittlung verwundert es nicht, daß spontane Übertragungen (Transfer) auf andere Sachgebiete kaum beobachtbar sind. Schoenfeld(1982) bezeichnet demzufolge die Annahme, daß im herkömmlichen Elementarunter­richt einVerständnis für mathemati­sche Problemlösungen erzeugt wird, als Täuschung bzw. Selbstbetrug:In sum: all too often we focus on a narrow col­lection of well-defined tasks and train students to execute those tasks in a rou­tine, if not algorithmic fashion. Then we test the students on tasks that are very close to the ones that have been taught. If they succeed on those problems, we

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIV, Heft 2, 1988