Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
97
Einzelbild herunterladen

Lesenlernen in den ersten beiden Klassen

der Sonderschule:

Entwicklung der Wortlesefähigkeit bei lernbehinderten Kindern in der Sonderschule und bei guten und schwachen Lesern

in der Grundschule

Von Christian Klicpera, Michaela Ehgartner, Barbara Gasteiger-Klicpera und Alfred Schabmann

Die Entwicklung der Lesefähigkeit in den ersten beiden Schulstufen wurde bei lernbehinderten Kindern der Sonderschule im Längsschnitt analysiert und mit jener von Schülern in der Grundschule verglichen. Es zeigt sich, daß lernbehinderte Kinder beim Lesen auch im Vergleich zu den schwächsten Lesern der Grundschule nur sehr langsam Fortschritte machen und sowohl bei der Ausbildung wortspezifischer Lesefertigkeiten, also bei der Aneignung eines Grundwortschatzes, als auch bei der Übertragung der Kenntnisse auf neue Wörter große Mühe haben. Ihr Leseverhalten ist über lange

The reading development during the first two years in school was analyzed in a longitudinal study for children with mild mental retardation in special education schools and compared to children in regular classes. These children made a very slow progress in reading even in comparison to the poorest readers in grade school and had difficulties in acquiring word specific reading skills (building up a sight vocabulary) as well as in gene­ralizing their reading competencies to new words. Their reading behavior was characterized for a long time through inefficient reading strategies.

Zeit durch ineffiziente Lesestrategien gekennzeichnet.

Lernbehinderte sowie leicht geistig be­hinderte Kinder haben große Mühe beim Erlernen des Lesens und beherrschen diese Fertigkeit vielfach nur ungenügend (Stanovich 1985). Der Leselernprozeß bei lernbehinderten Kindern hat jedoch bisher nur wenig Beachtung gefunden. Vielfach wird angenommen, daß er in unspezifischer Weise verlangsamt ist, im Unterschied zu den eher umschriebe­nen Schwierigkeiten, die normalbegabte legasthene Kinder zeigen(Snowling 1991).

Für das Verständnis des Leselernpro­zesses bietet die Unterscheidung von Teilfertigkeiten nach den Informations­verarbeitungsmodellen des Lesens eine nützliche Orientierung(Barron 1981; Goswami& Bryant 1990; Rayner& Pol­latsek 1990; Scheerer-Neumann 1977). Nach diesen Modellen können zwei Teilfertigkeiten voneinander unterschie­den werden, die für das Worterkennen

von Bedeutung sind: die Entwicklung wortspezifischer Lesekenntnisse und das phonologische Rekodieren, die Überset­zung der Graphem- in eine Phonemfolge aufgrund der Kenntnisse der Graphem­Phonem-Zuordnungen.

Eine Weiterführung dieser Unterschei­dung ist in den Stadienmodellen der Le­seentwicklung erfolgt(Frith 1985; Sey­mour& MacGregor 1984). Nach diesen Modellen werden die wortspezifischen Lesefertigkeiten in logographische bzw. logographemische und orthographische Wortkenntnisse differenziert. Die 10go­graphischen Wortkenntnisse entspre­chen der einfachsten Stufe der Leseent­wicklung, in der die Kinder nur einzel­ne hervorstechende Merkmale der Wör­ter beachten bzw. die Wörter anhand einzelner Buchstaben, etwa des Anfangs­buchstabens, identifizieren. Nach eini­ger Zeit soll dann ein recht starker Wech­sel in der Lesestrategie eintreten, indem

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 3, 1993

die Kinder dazu übergehen, die Wörter von links nach rechts, Buchstabe um Buchstabe, zu erlesen bzw. auf Grund ihrer Kenntnis der Graphem-Phonem­Korrespondenzen segmentweise phono­logisch zu rekodieren. Die Kinder besit­zen in diesemalphabetischen Stadi­um noch wenig Fertigkeiten, die Merk­male der Wörter(Identität der Buchsta­ben und Buchstabensequenz) ohne Erle­sen, d.h. ohne phonologische Reko­dierung, zum Worterkennen zu verwen­den. Sie haben zudem auch noch wenig Fertigkeiten entwickelt, die Wörter in häufiger vorkommende Einheiten zu un­terteilen und den Lesevorgang durch Bil­dung größerer Einheiten zu ökono­misieren. In der weiteren Folge soll das Stadium des alphabetischen, buchsta­benweisen Erlesens durch das Stadium des orthographischen Lesens abgelöst werden, in dem die Wörter durch die Verfügbarkeit eines schriftspezifischen,

97