Christian Klicperaet al.- Lesenlernen in den ersten beiden Klassen der Sonderschule
orthographischen Lexikons direkt, ohne phonologische Rekodierung, erkannt werden können.
Bei den wenigen Versuchen, ausgehend von diesen Unterscheidungen zu einer spezifischeren Eingrenzung der Leseschwierigkeiten schwächer begabter Schüler zu kommen, zeigte sich, daß es lern- und mäßig geistig behinderten Kindern und Erwachsenen leichter fällt, Logogramme zu erlernen, deren Zuordnung zu Bildmaterial bzw. deren repräsentative Funktion eindeutig ist, als Buchstabenfolgen(z.B. House et al. 1980). Buckley(1985) berichtete, daß leicht geistig behinderte Kinder in der Anfangsphase des Lesenlernens über längere Zeit die Bedeutung von Wörtern ohne jede phonologische Rekodierung erfassen und deshalb auch oft Fehler begehen, die nur eine entfernte graphische Ähnlichkeit mit den zu lesenden Wörtern haben. Um näheren Aufschluß über die Anfänge des Lesens bei lernbehinderten Kindern zu erhalten, wurde im Wiener „Legasthenie-Projekt“(Klicpera, Gasteiger-Klicpera& Schabmann 1993) durch Längs- und Querschnittsuntersuchungen versucht, die Leseentwicklung dieser Kinder jener durchschnittlicher Schüler
sowie jener von Kindern gegenüberzu-.
stellen, die in der Grundschule beim Lesenlernen besondere Schwierigkeiten zeigen. Parallel zu einer Untersuchung der Leseentwicklung in der 1. Klasse Grundschule wurde in mehreren Allgemeinen Sonderschulen(vergleichbar der Sonderschule für Lernbehinderte in der BRD) bei Kindern, die die erste Klasse besuchten, mehrmals während des Schuljahres die Entwicklung des Lesens und Schreibens untersucht. Zusätzlich wurde in den 2. Klassen der gleichen Allgemeinen Sonderschulen einer größeren Gruppe von Kindern ein spezieller Lesetest zweimal, einmal zu Beginn und einmal am Ende des Schuljahres, vorgegeben(Ehgartner 1991). Die Leseentwicklung dieser Schüler wurde mit den Ergebnissen einer Querschnittsuntersuchung verglichen, in der Kindern einer Grundschule der gleiche Test am Ende der 1. und der 2. Klasse vorgegeben wurde.
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Entwicklung der Lesefertigkeit in der 1. Klasse
Untersuchungsmethode
la. Untersuchungsgruppe in den Sonderschulen: Die Stichprobe setzte sich aus 4 Mädchen und 5 Buben zusammen, die in mehreren Allgemeinen Sonderschulen Niederösterreichs die 1. Klasse besuchten und deren Muttersprache Deutsch war. Das Durchschnittsalter der Kinder betrug 90 Monate(76-105 Monate). 7 Kinder wurden zu Schulbeginn in die 1. Schulstufe der Sonderschule eingeschult, 2 Kinder wiederholten bereits die 1. Schulstufe, zeigten jedoch im Verlauf des Schuljahres keine auffällig besseren Leistungen als die übrigen Kinder. Nach den schulpsychologischen Gutachten hatten die Kinder einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten von 71(67-79).
In den Klassen wurden die Leselehrgänge„AMI“(Blockschrift) und„Lernt lesen“(Druckschrift) verwendet, die nach den Prinzipien des analytisch-synthetischen Leseunterrichtes aufgebaut sind.
1b. Untersuchungsgruppe in den Volksschulen: In fünf Wiener Volksschulen, an die ein Hort angeschlossen ist, konnte für 82 Kinder, die nachmittags den Schulhort besuchten, die Leseentwicklung während des ganzen Schuljahres beobachtet werden. Die Muttersprache aller Kinder war Deutsch, 35 der Kinder waren Mädchen und 47 Buben. Das Durchschnittsalter der Kinder betrug 81 Monate(76-87 Monate) bei Schulbeginn. In zwei Schulen wurde der Leselehrgang ‚Das Lesehaus‘ verwendet, in den drei anderen ‚Frohes Lernen‘. Beide folgen weitgehend den Prinzipien eines analytisch-synthetischen Leseunterrichts.
Um Untergruppen mit ähnlichem Verlauf der Leseentwicklung in der 1. Klasse zu bilden, wurde für die Fehler, die zu Anfang, in der Mitte und am Ende des Schuljahres beim Lesen bekannter, neuer und sinnloser Wörter begangen wurden(siehe unten), eine Clusteranalyse nach der Methode von Ward gerechnet. Die größte von 3 Untergruppen
war durch ein problemloses Erlernen des Lesens charakterisiert(gute Leser, N= 49; 60%). Eine zweite Untergruppe hatte zu Anfang gewisse Probleme, lernte das Lesen aber bis zum Ende des Schuljahres recht gut(anfangs schwache Leser, N= 26; 32%). Den übrigen Kindern fiel das Lesen während des ganzen Schuljahres schwer(durchgehend schwache Leser, N= 7; 8%).
2. Untersuchungsdurchführung: Die Untersuchungsdurchführung wurde in der Sonderschule soweit wie möglich parallel zu jener in den Grundschulen angelegt, wobei die Inhalte der Lesetests sich immer an dem Vorgehen im Leseunterricht orientierten. In den Sonderschulen wurden die Kinder im Laufe des 1. Schuljahres zu 3 Zeitpunkten(Dezember, März, Juni) zu Einzeltestungen, die jeweils zwischen 30 und 40 Minuten dauerten, herangezogen und ihr Leistungsstand im Lesen bestimmt. In den Grundschulen wurde die Lesefähigkeit der Kinder fünfmal getestet. Diese Testung fand erstmals Anfang November, nach etwa 9 Schulbesuchswochen, statt, die weiteren Tests waren jeweils im Abstand von etwa 6 Wochen angesetzt. Die fünf Tests wurden— um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten— zu drei Testzeitpunkten zusammengefaßt: Anfang (= 1. Test), Mitte(= 2.+ 3. Test) und Ende(= 4.+ 5. Test) des Schuljahres. Zu jedem Testzeitpunkt erhielten die Kinder in der Sonderschule die folgenden Aufgaben(In der Grundschule wurden die gleichen Aufgaben gestellt, jedoch waren sie zu den späteren Testzeitpunkten etwas länger.):
Benennen der bisher gelernten Buchstaben
— bekannte Wörter in Form von Wortlisten(T1: 2 Listen mit insgesamt 8 Wörtern; T2: 3 Listen mit insgesamt 16 Wörtern; T3: 3 Listen mit insgesamt 16 Wörtern)
— neue Wörter in Form von Wortlisten (T1: 2 Listen mit insgesamt 8 Wörtern; T2: 3 Listen mit insgesamt 16 Wörtern; T3: 3 Listen mit insgesamt 16 Wörtern)
— Pseudowörter in Form von Wortlisten
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 3, 1993