Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
104
Einzelbild herunterladen

Voraussetzungen für das Lesenlernen bei lernbehinderten Kindern in der Sonderschule und bei guten und schwachen Lesern

in der Grundschule: Eine Längsschnittuntersuchung zur Entwicklung des phonematischen Bewußtseins in der ersten Schulstufe

Von Christian Klicpera, Michaela Ehgartner, Barbara Gasteiger-Klicpera und Alfred Schabmann

In einer Längsschnittuntersuchung über das Lesenler­nen in der 1. Klasse Sonderschule wurden zu Beginn einige Lernvoraussetzungen erhoben und mit den Ein­gangsvoraussetzungen von Schülern in der Grundschu­le verglichen. Die Ausbildung des phonematischen Be­wußtseins, als einer wichtigen Voraussetzung für das Lesenlernen, wurde über das gesamte Schuljahr wei­terverfolgt. Es zeigt sich, daß lernbehinderte Kinder neben geringeren allgemeinen sprachlichen Fertigkei­ten spezielle Schwierigkeiten bei der Reflexion über den Phonemaufbau der Sprache haben und daß sich das phonematische Bewußtsein auch durch den Lese­unterricht nur langsam entwickelt.

As part of a longitudinal study on reading development of children in special education schools cognitive prerequisites for learning to read were assessed at the beginning of first grade and compared with children in regular classes. The development of phonemic aware­ness as an important prerequisite for learning to read was absorved during the entire school year. It could be demonstrated that children with mild mental retarda­tion not only have weak verbal abilities but also special difficulties in reflecting on the phonem composition of language and that their phonemic awareness makes only moderate progress during reading instruction.

In einer vorausgehenden Untersuchung wurde auf die großen Schwierigkeiten hingewiesen, die nahezu alle Kinder in Sonderschulen für Lernbehinderte beim Lesenlernen zeigen(Klicpera, Ehgartner, Gasteiger-Klicpera& Schabmann 1993). Das Zurückbleiben in der Leseentwick­lung kann vielfache Ursachen haben. Eine große Anzahl an Untersuchungen hat gezeigt, daß der Erfolg beim Lesen­lernen zum Teil bereits vor Beginn des Leseunterrichts vorherzusagen ist. Dies dürfte für lernbehinderte Kinder ebenso gelten wie für Kinder mit durchschnitt­licher Allgemeinbegabung, allerdings gibt es kaum Untersuchungen über die Lernvoraussetzungen lern- und geistig behinderter Kinder für das Lesen(Sta­novich 1985).

104

Literaturübersichten und Metaanalysen (Horn& Packard 1985; Tramontana et al. 1988; Schneider 1989) zeigen, daß neben der Intelligenz vor allem die Aus­bildung der sprachlichen Fähigkeiten bedeutsam für die Leseentwicklung ist. Als guter Prädiktor wurde wiederholt der aktive Wortschatz der Kinder bestä­tigt(DeHirsch et al. 1966; Jansky& DeHirsch 1972; Wolf 1984). Ein Grund dafür dürfte darin liegen, daß der Um­fang des aktiven Wortschatzes einen Hinweis auf die Fähigkeit der Kinder gibt, sich Wörter einzuprägen und aus dem Gedächtnis, deminneren Lexi­kon, abzurufen, eine verbale Fähigkeit, die eine enge Verwandtschaft zur Lese­fähigkeit aufweist(Wolf 1984). Zum an­deren wird der aktive Wortschatz der

Kinder vor allem wenn er über das Benennen von Gegenständen geprüft wird auch durch die Fähigkeit be­stimmt, die richtige Aussprache eines Wortes zu rekonstruieren, eine Fähig­keit, die gleichfalls den beim Lesen er­forderlichen Fertigkeiten verwandt ist (Katz 1986).

Neben dem Umfang des Wortschatzes und der Fähigkeit, über den Wortschatz aktiv zu verfügen, dürfte auch die Ge­schwindigkeit des lexikalischen Abrufs für die Lesefähigkeit von Bedeutung sein(Ellis& Miles 1981; Wolf 1984). Diese wird häufig über das rasche Be­nennen von Bildfolgen oder Zahlenrei­hen bestimmt. Bei dieser Aufgabe ist die Fähigkeit, rasch die Aussprache an sich bekannter Wörter zu aktivieren,

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 3, 1993