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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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möglicherweise jener Faktor, der die un­terschiedlichen Leistungen von Kindern ausmacht. In den letzten Jahren wird deshalb die Benennungsgeschwindig­keit als ein Indikator für die Intaktheit phonologischer(lautsprachlicher) Fer­tigkeiten aufgefaßt(Wagner& Torge­sen 1987).

Neben diesen allgemeineren kognitiven Lernvoraussetzungen ist es notwendig, auch die Vorkenntnisse über die Schrift­sprache zu erfassen, die als unmittelba­re Voraussetzungen für das Lesenlernen betrachtet werden können und den Kin­dern einen Startvorteil im Unterricht ge­ben bzw. einen Teil des im Leseunter­richt zu Erlernenden bereits vorwegneh­men.

In den letzten Jahren wurde im Zusam­menhang mit dem Lesenlernen dem me­talinguistischen Bewußtsein besondere Beachtung geschenkt(Downing& Val­tin 1984; Golinkoff 1978; Goswami& Bryant 1990; Liberman et al. 1977; Ro­zin& Gleitman 1977; Wagner& Tor­gesen 1987). Unter metalinguistischem Bewußtsein versteht man die Einsicht in die Funktion und die innere Struktur der Sprache sowie die Fähigkeit, die Sprache selbst zum Gegenstand der Be­trachtung machen zu können. Vom Lese­anfänger wird bereits sehr früh, schon in den ersten Stadien des Leseunter­richts, ein Verständnis für die Gliede­rung der Sprache in Wörter und den Aufbau von Wörtern aus Phonemen er­wartet. Das Erlernen der Graphem-Pho­nem-Zuordnung, auf der unsere Schrift als alphabetisches Schriftsystem beruht, setzt voraus, daß die Kinder die pho­nemische Struktur der Sprache nicht nur verwenden(wie jeder Sprecher der deut­schen Sprache), sondern sich dieser Struktur zu einem gewissen Grad auch bewußt sind und daß sie Wörter in klei­nere Einheiten gliedern und aus diesen Einheiten(bewußt) zusammenfügen kön­nen(= phonologisches Bewußtsein). Die­sem phonologischen Bewußtsein wird vor allem in jenen Theorien ein hoher Stellenwert für den Leselernprozeß zu­gewiesen, die in der Aneignung der phonologischen Rekodierung, der inne­ren Umsetzung der Graphemfolge in Lautsprache, einen wichtigen Meilen­

Christian Klicperaet al.- Voraussetzungen für das Lesenlernen bei lernbehinderten Kindern

stein für die Beherrschung der Schrift­sprache sehen(Schneider 1989). Verschiedene Arbeiten(zunächst fast ausschließlich aus nicht-deutschspra­chigen Ländern,k Übersicht bei Goswa­mi& Bryant 1990; Wagner& Torgesen 1987) wiesen darauf hin, daß keines­falls alle Leseanfänger diese Fähigkei­ten besitzen. Ein Rückstand in der Ent­wicklung metalinguistischer Fähigkei­ten im Allgemeinen und ein Mangel an phonologischem Bewußtsein im Beson­deren wird von diesen Autoren als eine der möglichen Ursachen von Lese­schwierigkeiten angesehen. Es wird an­genommen, daß Kinder nur dann effi­zient vom Leseunterricht profitieren kön­nen, wenn sie bereits zuvor jene Kon­zepte gebildet haben oder frühzeitig im Leseunterricht ausbilden, die für den Umgang mit einer nach dem alphabeti­schen Prinzip aufgebauten Schrift we­sentlich sind.

Durch Längs- und Querschnittsunter­suchungen wurde im WienerLeg­asthenie-Projekt(Klicpera, Gasteiger­Klicpera& Schabmann 1993) versucht, die Leseentwicklung durchschnittlicher Schüler jener von Kindern gegenüber­zustellen, die beim Lesenlernen beson­dere Schwierigkeiten zeigen. Neben ei­nigen größeren Stichproben in der regu­lären Grundschule wurde dabei auch die Leseentwicklung von Kindern mit ei­nem schwerwiegenderen allgemeinen Begabungsmangel in Sonderschulen un­tersucht. Parallel zu einer Untersuchung der Leseentwicklung in der 1. Klasse Grundschule wurden in mehreren All­gemeinen Sonderschulen(vergleichbar der Sonderschule für Lernbehinderte in der BRD) bei Kindern, die die erste Klas­se besuchten, zu Beginn die Lernvor­aussetzungen für das Lesenlernen und in der Folge mehrmals die Fortent­wicklung des phonematischen Bewußt­seins sowie die Entwicklung des Lesens beobachtet.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 3, 1993

Untersuchungsmethode

Untersuchungsgruppe in den Sonderschulen

Die Stichprobe setzte sich aus 4 Mäd­chen und 5 Buben zusammen, die in mehreren Allgemeinen Sonderschulen Niederösterreichs die 1. Klasse besuch­ten und deren Muttersprache Deutsch war. Das Durchschnittsalter der Kinder betrug 90 Monate(76-105 Monate). 7 Kinder wurden zu Schulbeginn in die 1. Schulstufe der Sonderschule einge­schult, 2 Kinder wiederholten bereits die 1. Schulstufe, zeigten jedoch im Verlauf des Schuljahres keine auffällig besseren Leistungen als die übrigen Kinder. Nach den schulpsychologischen Gutachten hatten die Kinder einen durchschnittli­chen Intelligenzquotienten von 71(67­79).

Untersuchungsgruppe in den Grundschulen

In fünf Wiener Grundschulen konnte für 82 Kinder der ersten Klasse, die nach­mittags den Schulhort besuchten, die Leseentwicklung während des ganzen Schuljahres beobachtet werden. Die Mut­tersprache aller Kinder war Deutsch, 35 der Kinder waren Mädchen und 47 Buben. Das Durchschnittsalter der Kin­der betrug 81 Monate(76-87 Monate) bei Schulbeginn. 4 Kinder waren vor dem Besuch der 1. Klasse um ein Jahr zurückgestellt worden und besuchten in dieser Zeit eine Vorschule.

Um Untergruppen mit ähnlichem Ver­lauf der Leseentwicklung in der 1. Klas­se zu bilden, wurde für die Fehler, die zu Anfang, in der Mitte und am Ende des Schuljahres beim Lesen bekannter und unbekannter Wörter begangen wur­den(siehe Klicpera et al. 1993), eine Clusteranalyse nach der Methode von Ward gerechnet. Die größte von 3 Un­tergruppen war durch ein problemloses Erlernen des Lesens charakterisiert(gute Leser, N= 49; 60%). Eine zweite Un­tergruppe hatte zu Anfang gewisse Pro­bleme, lernte das Lesen dann aber bis zum Ende des Schuljahres recht gut(an­

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