Christian Klicperaet al.+ Voraussetzungen für das Lesenlernen bei lernbehinderten Kindern
sam, wobei dies für das Lesen von unbekannten, im Leseunterricht nicht vorgestellten Wörtern noch mehr gilt als für das Lesen der bereits vom Unterricht her bekannten Wörter. Außerdem deutet die unterschiedliche Größe der Korrelationen in den beiden Gruppen an, daß das phonematische Bewußtsein für lernbehinderte Kinder von größerer Bedeutung ist und eine wesentliche Hürde beim Lesenlernen darstellt.
Diskussion
Lernbehinderte Kinder kommen mit geringen Lernvoraussetzungen für das Lesen in die Schule. Im Unterschied zu Kindern in der Grundschule kennen sie bei Schuleintritt kaum Buchstaben und ihre Einsicht in die Phonemstruktur ist ebenfalls gering. Während jedoch Kinder in der Grundschule bei Schuleintritt bestehende Mängel im phonematischen Bewußtsein recht rasch aufholen können, wenn sie mit dem Erlernen der Schriftsprache konfrontiert werden, fällt dies den lembehinderten Kindern recht schwer.
Tab. 2: Korrelation der Testergebnisse zu Schulbeginn mit den Leistungen im Lesen zu Anfang des Schuljahres(Vergleich der Korrelation bei lernbehinderten Kindern in der Sonderschule und bei
Kindern in der Grundschule). Sonderschule Grundschule Bekannte W. Neue Wörter Bekannte W. Neue Wörter
IQ/Schulreifetest ‚03.42 31.16 Wortschatz.16 21 31 15 Rasches Benennen.29 17.28 23 Buchstabenkenntnis ‚04.24.13 31 Phonemat. Bewußtsein ‚48.76 ‚30 ‚45
Obwohl lernbehinderte Kinder auch andere Mängel in ihren Lernvoraussetzungen aufweisen, deuten die Ergebnisse dieser Untersuchung darauf hin, daß die Einsicht in die Phonemstruktur der Sprache für diese Kinder beim Lesenlernen von besonderer Bedeutung ist. Dabei ist freilich zu bedenken, daß diese Ergebnisse in einem Unterricht gewonnen wurden, in dem die Lehrer frühzeitig großen Wert auf das Erlesen von Wörtern gelegt haben und die Kinder dazu angehalten haben, die den Buchstaben zuzuordnenden Laute auszusprechen und zusammenzulauten. Es ist möglich, daß in einem Unterricht, der stärker auf der Vermittlung eines Sicht
wortschatzes aufbaut, andere Lernvoraussetzungen bedeutsamer werden. Die Analyse der Leseentwicklung(Klicpera et al. 1993) wie auch die Beobachtung der Fortentwicklung des phonematischen Bewußtseins während des ersten Schuljahres legen nahe, daß die meisten lernbehinderten Kinder mit diesem Vorgehen überfordert sind und stärker strukturierende Hilfen für das Erlernen der Phonemsynthese und-analyse benötigen. Solche Hilfen sind erprobt worden(Conners 1992) und könnten unseres Erachtens zu einem größeren Erfolg beim Lesenlernen beitragen.
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HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 3, 1993