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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Katrin Georgieff und Gisela Friedrich+ Soziale Beziehungen Späterblindeter

Auge nur eine Sehschärfe von nicht mehr als einem Fünfzigstel besteht oder wenn andere Störungen des Sehver­mögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie dieser Beeinträch­tigung der Sehschärfe gleichzuachten sind.(Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1983)

Als Späterblindete werden nach Schol­tyssek Personen bezeichnet, die zwi­schen dem 18. und dem 60. Lebensjahr erblinden.(Scholtyssek 1948)

Mit einer im Erwachsenenalter einge­tretenen Erblindung sind zahlreiche Pro­bleme und Auswirkungen auf das Leben des Betroffenen verbunden.

Neben den meist passageren, weil durch intensives Training und den Ge­brauch von Hilfsmitteln weitgehend kompensierbaren Einschränkungen in den Bereichen Mobilität, Beruf, schrift­liche Kommunikation, Freizeitgestaltung sowie persönliche Pflege und Haus­haltsführung, kann es auch zu soma­tischen Beeinträchtigungen kommen. Als besonders belastend wird von vie­len Späterblindeten der mit der Erblin­dung zunächst einhergehende massive Verlust an Unabhängigkeit empfunden. In diesem Zusammenhang ist auf Ge­fahren hinzuweisen, die sich aus dem anfänglich starken Hilflosigkeits- und Abhängigkeitserleben Späterblindeter bei der Gestaltung interpersonaler Be­ziehungen ergeben können:

Die Angehörigen, Kollegen und Freunde fühlen sich angesichts der neuen Situation ebenso hilflos wie der Betroffene selbst. Überforderun­gen, überfürsorgliches Verhalten oder der Abbruch der sozialen Beziehun­gen zum Erblindeten können die Fol­gen sein.

Zu hohe Forderungen der Mitmen­schen an den Betroffenen, aber auch des Erblindeten an sich selbst, pro­vozieren Mißerfolge und können letztlich zur völligen Resignation füh­ren.

Überfürsorgliches Verhalten der An­gehörigen birgt aber andererseits die Gefahr in sich, daß der Betroffene sich alle Dinge des täglichen Lebens aus der Hand nehmen läßt und so die

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verlorengegangene Unabhängigkeit

auch nicht partiell zurückgewinnt. Die Gefahr überfürsorglichen Verhal­tens soll an 2 Problemen verdeutlicht werden: Erstens bedeutet die Ausfüh­rung alltäglicher Verrichtungen für je­den Blinden, aber besonders für Spä­terblindete, einen erhöhten Aufwand an Zeit und Konzentration, so daß zum ei­nen das Verhältnis zwischen aufgewen­deter Mühe und Erfolg häufig nicht be­friedigend ist, zum andere stellen die erhöhten Konzentrationsanforderungen für den Späterblindeten eine Anfangs nicht zu unterschätzende Belastung dar. Zweitens bedeutet Erblindung zu einem hohen Maße Kontrollverlust, so daß die Betroffenen besonders in der ersten Zeit mit massiven Ängsten konfrontiert sind. Das Abhängigkeitserleben eines Spät­erblindeten resultiert nicht zuletzt auch daraus, daß wesentlich mehr Hilfe als früher in Anspruch genommen werden muß, ohne daß man sich im Gegen­satz zur Zeit vor der Erblindung in der Lage sieht, die so entstehende Negativ­bilanz in absehbarer Zeit wieder auszu­gleichen. Eine im Erwachsenenalter eingetretene Erblindung löst beim Betroffenen fast immer eine Krise aus. In der Literatur finden sich zahlreiche Modelle, mit de­ren Hilfe aufgezeigt werden soll, in wel­chen Verarbeitungsschritten oder-pha­sen es Personen gelingt, belastende Er­eignisse zu bewältigen. Auf die Bela­stungssituation der Späterblindung be­ziehen sich beispielsweise Modelle von Scholtyssek(1948), Schuchardt(1984), Tuttle(1584) und Suhrweier(1989), Mit Ahrbeck und Rath(1987, 8) läßt sich das Gesagte gleichermaßen zu­sammenfassend wie ergänzend fest­stellen:Das psychosoziale Selbst muß neu definiert werden. Blindwerden ist nicht nur ein physiologischer Vorgang. Er berührt das Selbstbild, ruft Reaktio­nen bei wichtigen Bezugspersonen her­vor, schafft neue Grenzen und neue psychosoziale Dimensionen. Aus der gesichteten Literatur ließen sich 15 Faktoren, die den Prozeß der Aus­einandersetzung mit der Erblindung be­einflussen, eroieren, zum Beispiel:

Zeitraum, über den sich der Erblin­dungsprozeß erstreckt. Plötzlich eintre­tende Erblindung führt meist zum Erle­ben absoluter Ausweglosigkeit in der ersten Zeit unmittelbar nach dem Ereig­nis. Der allmähliche Verlust der Sehkraft ist mit besonderen Anforderungen an die Bewältigungskompetenzen des Be­troffenen verbunden: Häufig lebten die Patienten bereits über Jahre mit der stän­digen Angst und Gewißheit, daß die Erblindung irgendwann eintreten wird. Vander Kolk(erwähnt in Ahrbeck& Rath 1987) vermutet, daß der Erblindete sich möglicherweise sogar entlastet füh­len könnte, wenn das lange befürchtete Ereignis eingetreten ist.

Der Einfluß des Geschlechts der Betrof­fenen wird vergleichsweise selten be­schrieben. Frauen befürchten eher als Männer, daß ihr Wert als Partner durch die Erblindung beeinträchtigt sein könn­te. Frauen nehmen seltener als Männer an Rehabilitationslehrgängen teil, wenn diese mit einer Unterbringung im Inter­nat verbunden sind. Ältere Frauen be­vorzugen Lehrgänge, in denen Handar­beiten(neu) vermittelt werden, jüngere nehmen lieber an Hauswirtschaftslehr­gängen teil; der Wunsch, ein Mobilitäts­training zu absolvieren und Punktschrift zu lernen, ist bei beiden Altersgruppen erst zweitrangig.

Kontaktaufnahme zu anderen Seh­geschädigten. Diesem Faktor wird in der vorliegenden Literatur eine sehr große Bedeutung beigemessen. Es wird betont, daß der Erblindete möglichst schnell Kontakt zu anderen Sehgeschädigten auf­nehmen soll.

Persönliches soziales Netzwerk. Es wird wiederholt hervorgehoben, daß die Ver­arbeitung der Erblindung entscheidend erschwert wird, wenn Freunde plötzlich den Kontakt abbrechen oder wenn sich der Partner vom Betroffenen trennt. Grundsätzlich gilt aber, daß auch bei einem optimalen sozialen Netzwerk die Auseinandersetzung mit einer Krise vom Betroffenen geleistet werden muß! So­ziale Umgebungsvariablen können die Auseinandersetzung mit einer Krise le­diglich erleichtern oder erschweren.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XIX, Heft 3, 1993